Von Sorgenkindern und familiärer Atmosphäre im Altenheim
Heute war ein ganz normaler Samstagmorgen - bis der Redakteur der Kassel-Zeitung, Ottmar Miles-Paul die HNA aufgeschlagen hat. Berichte mit Überschriften "Hilfe für Sorgenkinder" und "Wie in einer Familie" über ein Altenheim brachten dann aber das Blut des Behindertenrechtlers zum Kochen.
Kommentar von Ottmar Miles-Paul
Kann es sein, dass wir in der Behindertenarbeit und -politik immer wieder von vorne anfangen müssen? Kann es sein, dass wir es mit unserem Engagement für Menschenwürde, Selbstbestimmung und gleichberechtigter Teilhabe mit einer neven ending story zu tun haben? Dieser Eindruck hat sich bei mir auf jeden Fall beim heutigen Lesen der Hessisch Niedersächsische Allgemeinen (HNA) förmlich verfestigt. Denn wenn ich an einem entspannten Samstagmorgen in dieser Zeitung die Überschrift "Hilfe für Sorgenkinder" zu einem Artikel über eine Hausmesse eines neuen Sanitätshauses lesen muss, was soll ich dann denken? Wenn ich dann mißgestimmt weiterblättere und einen Artikel über ein Altenheim für 48 Personen im Landkreis Kassel mit der Überschrift "Wie in einer Familie" finde, in dem derartige Einrichtungen maßlos verschönigt werden, laufe ich Gefahr, in eine ernsthafte Krise zu geraten oder, was sehr gegen meine Natur ist, aggresiv zu werden. Vor allem, wenn ich diese Woche erst in Brüssel beim Treffen der Europäischen Koalition für ein Leben behinderter Menschen in der Gemeinde von Standards in Schweden und Neuseeland gehört habe, wo Einrichtungen aufgelöst und maximal vier bis 5 behinderte Menschen in Gruppen zusammen leben. Wie gut, dass es da den Nachrichtendienst kobinet-nachrichten gibt, für den ich ehrenamtlich schreiben und damit einen Beitrag zur eigenen Krebsvorsorge leisten kann, indem ich Dampf über diese Verärgerung am Morgen ablassen kann.
Als eine langjährig engagierte Frau aus dem Kasseler Schwerhörigenbund vor einigen Jahren bei einer Veranstaltung berichtete, dass viele der Dinge, über die wir heute in der Behindertenarbeit diskutieren, bereits in den 70er Jahren auf der Tagesordnung standen und man immer wieder von vorne anfangen müsse, hatte ich als energiegeladener Jungspunt die Hoffnung, dass es uns mit unserem Engagement für die Gleichstellung Behinderter nicht so ergehen müsse. Erste Erfolge beim Abbau von Barrieren, bei der Schaffung und langsam, aber sicher, fortschreitenden Umsetzung von Gleichstellungsgesetzen und letztendlich die Namensänderung der ehemaligen Aktion Sorgenkind in Aktion Mensch Anfang 2000, gaben mir die richtige Zuversicht, dass wir einen nachhaltigeren Einfluss auf unsere Gesellschaft in Sachen Behindertenfragen haben würden.
Wenn nun in der HNA aber über die Hausmesse im Nicolai Vital Resort in Kassel mit der Überschrift "Hilfe für Sorgenkinder" das "Sorgenkind-Images" wieder in die Medien und in die Köpfe kriecht, bringt das die Realität zu Tage, dass dieses Image bei vielen wohl nie richtig vertrieben worden ist. Ob die Verbreitung dieses Image das Sanitätshaus, die Zeitung oder vielleicht sogar beide verbockt haben, war heute noch nicht herauszukriegen. Wie auch immer, es ist zutiefst ärgerlich, an einem entspannten Samstagmorgen wieder in der Zeitung von behinderten Menschen als ‚Sorgenkindern' lesen zu müssen. Wenn behinderte Menschen jetzt wieder in einer Zeitung als "Sorgenkinder" bezeichnet werden, ist das ein Schlag gegen unsere Würde und dafür eine zünftige Entschuldigung fällig. Denn diejenigen, die Eltern von behinderten Kindern und behinderten Menschen die "Sorgen" machen, sind vorrangig Menschen, die es immer noch nicht kapiert haben, dass wir gleichberechtigte BürgerInnen sind.
Und genau deshalb ist der Schritt zum zweiten Artikel über die angeblich so "familiäre" Atmosphäre des neu geplanten Altenheims der Arbeiterwohlfahrt (AWO) gar nicht so weit. Denn wenn behinderte und ältere Menschen als "Sorgenkinder", "Pflegefälle" oder wie auch immer degradiert werden und dadurch die "Helfer" gleichzeitig in ihrem Edelmut förmlich in den Himmel wachsen, ist die Verbindung zum eigenen Leben und was man für sich als Standard betrachtet, weitgehend abgebrochen. Das "Die" und "Wir" ist dann allgegenwärtig und dann ist es auch anscheinend gar kein Problem mehr, Lebensbedingungen anderer Menschen schön zu reden und schön zu schreiben, die man für sich nie und nimmer akzeptieren würde. So kommen dann Überschriften wie "Wie in einer Familie" zustande. Die Unterüberschrift "Awo-Geschäftsführer Michael Schmidt stellte Konzept für Altenheim vor" macht dann deutlich, worum es geht - unter anderem auch um Geschäfte für einen Wohlfahrtsverband.
"Riechen, sehen und umhergehen kann man im Sinnesgarten. In den Hausgemeinschaften, in denen die alten Menschen leben, geht es familiär zu", wird dann der Artikel angeleiert, so dass einem fast das Herz aufgeht, bis man dann einige Zeilen später liest: "48 Plätze in vier Hausgemeinschaften sind für Dörnhagen geplant." Und später erfährt man dann auch, dass die Awo in Nordhessen 16 Einrichtungen mit 1.500 Plätzen betreibt. Während die wenigen kritischen Geister der Behindertenbewegung nun vielleicht rufen: "Sauerei", "Anstalt", "Marsch aus den Institutionen - Reißt die Mauern nieder", höre ich schon die Stimmen vieler "unbefangener" BürgerInnen: "Das ist doch toll, kleine Hausgemeinschaften und nicht mehr das Großheim, ich weiß gar nicht, was ihr schon wieder zu kritisieren habt". Und genau das hört man oft und das ist auch das fatale in unserer Gesellschaft. Gedanken darüber, dass die Unterstützung, die in sogenannten "Altenheimen" gewährt werden können, auch zu Hause gewährt werden könnten, wo man sich wirklich "heimisch" fühlen kann, spielen hier wohl kaum eine Rolle. Die klare Ansage der ExpertInnen bei der Tagung zum Recht auf ein Leben in der Gemeinde, an der ich diese Woche in Brüssel teilgenommen habe, wonach es keinerlei Grund gibt, behinderte und ältere Menschen in Sondereinrichtungen unterzubrigen, sind hierzulande noch weit weg.
Deshalb rufe ich heute einfach einmal Herrn Schmidt von der Awo, dem Schreiberling des Sorgenkind-Artikels, dem des Altenheim-Artikels und all denjenigen, die anscheinend keine Vision davon haben, dass die meisten behinderten und älteren Menschen wie alle anderen auch, in ihren eigenen Wohnungen leben und dort unterstützt werden wollen und können zu: Zieht doch selbst in die Behinderten- und Altenheime ein, lasst die anderen Menschen aber in Ruhe - und wenn ihr nicht fähig oder willens seid, andere Dienstleistungen zu entwickeln oder Artikel zu schreiben, in denen behinderte Menschen mit Respekt behandelt werden, lasst es einfach - aber um Himmels Willen lasst uns in Ruhe!
Kann es sein, dass wir in der Behindertenarbeit und -politik immer wieder von vorne anfangen müssen? Kann es sein, dass wir es mit unserem Engagement für Menschenwürde, Selbstbestimmung und gleichberechtigter Teilhabe mit einer neven ending story zu tun haben? Dieser Eindruck hat sich bei mir auf jeden Fall beim heutigen Lesen der Hessisch Niedersächsische Allgemeinen (HNA) förmlich verfestigt. Denn wenn ich an einem entspannten Samstagmorgen in dieser Zeitung die Überschrift "Hilfe für Sorgenkinder" zu einem Artikel über eine Hausmesse eines neuen Sanitätshauses lesen muss, was soll ich dann denken? Wenn ich dann mißgestimmt weiterblättere und einen Artikel über ein Altenheim für 48 Personen im Landkreis Kassel mit der Überschrift "Wie in einer Familie" finde, in dem derartige Einrichtungen maßlos verschönigt werden, laufe ich Gefahr, in eine ernsthafte Krise zu geraten oder, was sehr gegen meine Natur ist, aggresiv zu werden. Vor allem, wenn ich diese Woche erst in Brüssel beim Treffen der Europäischen Koalition für ein Leben behinderter Menschen in der Gemeinde von Standards in Schweden und Neuseeland gehört habe, wo Einrichtungen aufgelöst und maximal vier bis 5 behinderte Menschen in Gruppen zusammen leben. Wie gut, dass es da den Nachrichtendienst kobinet-nachrichten gibt, für den ich ehrenamtlich schreiben und damit einen Beitrag zur eigenen Krebsvorsorge leisten kann, indem ich Dampf über diese Verärgerung am Morgen ablassen kann.
Als eine langjährig engagierte Frau aus dem Kasseler Schwerhörigenbund vor einigen Jahren bei einer Veranstaltung berichtete, dass viele der Dinge, über die wir heute in der Behindertenarbeit diskutieren, bereits in den 70er Jahren auf der Tagesordnung standen und man immer wieder von vorne anfangen müsse, hatte ich als energiegeladener Jungspunt die Hoffnung, dass es uns mit unserem Engagement für die Gleichstellung Behinderter nicht so ergehen müsse. Erste Erfolge beim Abbau von Barrieren, bei der Schaffung und langsam, aber sicher, fortschreitenden Umsetzung von Gleichstellungsgesetzen und letztendlich die Namensänderung der ehemaligen Aktion Sorgenkind in Aktion Mensch Anfang 2000, gaben mir die richtige Zuversicht, dass wir einen nachhaltigeren Einfluss auf unsere Gesellschaft in Sachen Behindertenfragen haben würden.
Wenn nun in der HNA aber über die Hausmesse im Nicolai Vital Resort in Kassel mit der Überschrift "Hilfe für Sorgenkinder" das "Sorgenkind-Images" wieder in die Medien und in die Köpfe kriecht, bringt das die Realität zu Tage, dass dieses Image bei vielen wohl nie richtig vertrieben worden ist. Ob die Verbreitung dieses Image das Sanitätshaus, die Zeitung oder vielleicht sogar beide verbockt haben, war heute noch nicht herauszukriegen. Wie auch immer, es ist zutiefst ärgerlich, an einem entspannten Samstagmorgen wieder in der Zeitung von behinderten Menschen als ‚Sorgenkindern' lesen zu müssen. Wenn behinderte Menschen jetzt wieder in einer Zeitung als "Sorgenkinder" bezeichnet werden, ist das ein Schlag gegen unsere Würde und dafür eine zünftige Entschuldigung fällig. Denn diejenigen, die Eltern von behinderten Kindern und behinderten Menschen die "Sorgen" machen, sind vorrangig Menschen, die es immer noch nicht kapiert haben, dass wir gleichberechtigte BürgerInnen sind.
Und genau deshalb ist der Schritt zum zweiten Artikel über die angeblich so "familiäre" Atmosphäre des neu geplanten Altenheims der Arbeiterwohlfahrt (AWO) gar nicht so weit. Denn wenn behinderte und ältere Menschen als "Sorgenkinder", "Pflegefälle" oder wie auch immer degradiert werden und dadurch die "Helfer" gleichzeitig in ihrem Edelmut förmlich in den Himmel wachsen, ist die Verbindung zum eigenen Leben und was man für sich als Standard betrachtet, weitgehend abgebrochen. Das "Die" und "Wir" ist dann allgegenwärtig und dann ist es auch anscheinend gar kein Problem mehr, Lebensbedingungen anderer Menschen schön zu reden und schön zu schreiben, die man für sich nie und nimmer akzeptieren würde. So kommen dann Überschriften wie "Wie in einer Familie" zustande. Die Unterüberschrift "Awo-Geschäftsführer Michael Schmidt stellte Konzept für Altenheim vor" macht dann deutlich, worum es geht - unter anderem auch um Geschäfte für einen Wohlfahrtsverband.
"Riechen, sehen und umhergehen kann man im Sinnesgarten. In den Hausgemeinschaften, in denen die alten Menschen leben, geht es familiär zu", wird dann der Artikel angeleiert, so dass einem fast das Herz aufgeht, bis man dann einige Zeilen später liest: "48 Plätze in vier Hausgemeinschaften sind für Dörnhagen geplant." Und später erfährt man dann auch, dass die Awo in Nordhessen 16 Einrichtungen mit 1.500 Plätzen betreibt. Während die wenigen kritischen Geister der Behindertenbewegung nun vielleicht rufen: "Sauerei", "Anstalt", "Marsch aus den Institutionen - Reißt die Mauern nieder", höre ich schon die Stimmen vieler "unbefangener" BürgerInnen: "Das ist doch toll, kleine Hausgemeinschaften und nicht mehr das Großheim, ich weiß gar nicht, was ihr schon wieder zu kritisieren habt". Und genau das hört man oft und das ist auch das fatale in unserer Gesellschaft. Gedanken darüber, dass die Unterstützung, die in sogenannten "Altenheimen" gewährt werden können, auch zu Hause gewährt werden könnten, wo man sich wirklich "heimisch" fühlen kann, spielen hier wohl kaum eine Rolle. Die klare Ansage der ExpertInnen bei der Tagung zum Recht auf ein Leben in der Gemeinde, an der ich diese Woche in Brüssel teilgenommen habe, wonach es keinerlei Grund gibt, behinderte und ältere Menschen in Sondereinrichtungen unterzubrigen, sind hierzulande noch weit weg.
Deshalb rufe ich heute einfach einmal Herrn Schmidt von der Awo, dem Schreiberling des Sorgenkind-Artikels, dem des Altenheim-Artikels und all denjenigen, die anscheinend keine Vision davon haben, dass die meisten behinderten und älteren Menschen wie alle anderen auch, in ihren eigenen Wohnungen leben und dort unterstützt werden wollen und können zu: Zieht doch selbst in die Behinderten- und Altenheime ein, lasst die anderen Menschen aber in Ruhe - und wenn ihr nicht fähig oder willens seid, andere Dienstleistungen zu entwickeln oder Artikel zu schreiben, in denen behinderte Menschen mit Respekt behandelt werden, lasst es einfach - aber um Himmels Willen lasst uns in Ruhe!
Kommentare
Ansicht der Kommentare: Linear | Verschachtelt
Martin Reuter am :
Deinen Wutanfall kann ich gut verstehen. Ich darf querverweisen auf meine Medien-Beobachtung ("Populismus und Schwarzer-Peter-Spiele").
Da geht es ebenfalls um die Vermischung von PR und Sache.
Und deshalb haben wir ja wohl jetzt dieses 'andere' Medium...
MR