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Solo auf Gleis 2

Samstag, 21. Juli 8.40 Uhr, Galaxis Milchstraße, Sonnensystem, Planet Erde, Zentral-Europa: Ich sitze an einer Zusteigestation vor den Toren Kassels. Nicht "Kevin allein zu Haus", sondern "Herwich allein am Bahnsteig" steht in aller Herrgottsfrühe auf dem Programm.
Nach einem sensationellen Home-Run, der dann schlussendlich doch keiner werden sollte, sitze ich allein an Gleis 2 und habe nach einer Viertelstunde eine ansehnliche Zahl schleimiger Aulen homogen um mich herum verteilt, die nach einer sportiven Höchstleistung, die damit gekrönt wurde, dass ich immerhin noch die Rücklichter des verfickten Zuges sehe, der mich aus dieser Einöde wegbringen soll, ihren Weg aus den unendlichen Tiefen meiner schwer gebeutelten Lungenflügel ins Freie suchen.
Als dann meine kleine, süße Mischlingshündin, die mich begleitet und diesmal der Grund für meine kleine morgendliche Trainingseinheit, anfängt die Aulen aufzulecken, denke ich nur noch: "Naja, dann bleibt es wenigstens in der Familie."

Als ich auf einer nahe dem Bahnhof, falls man das überhaupt so nennen darf, gelegenen Brücke angehastet komme, höre ich schon meinen Zug heranfahren und ich denke: "Alter, das wird verdammt eng."
Denn ich muss auf dem ordnungsgemäß Barriere frei umgebauten Zusteigeareal mit seinen gigantischen Rampen auch noch auf das von mir weiter entfernt liegende Gleis 2. Schwitzen tue ich auch schon, nachdem ich ein frisches Hemd angelegt hatte. Und wenn ich was hasse, dann vollgeschwitzte frische Hemden, die dann natürlich keine mehr sind.
Damit die überbordenden Transpirationsschübe ansatzweise ablüften können, sitze ich nun mit nacktem Oberkörper an meinem Bahnsteig - ist ja sonst keiner da. Die anderen sind ja alle mitgekommen.
An dieser Stelle kann man vermutlich von Glück sprechen, dass die Station personaltechnisch verwaist ist. Sonst hätte ich vermutlich noch von einem anständigen deutschen Bahnbeamten einen gepflegten Einlauf wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses bekommen.
So liegt die Erregung darüber, dass dieser beschissene Zug so ziemlich genau eine Minute früher als geplant kommt ganz allein auf meiner Seite und die der vergangenen Nacht mit Mutti gefühlte Jahrzehnte zurück.

Da hilft die NVV-Werbung "Pünktlicher gehts nicht - Geld zurück ab 5 Minuten Verspätung" auch nicht wirklich weiter. Oder sollte ich mich etwa über die "Verfrühung" bei der Servicehotline ausheulen? "Nein, das hilft auch nicht weiter", ist die klare Ansage meines nun wachen Geistes.
Da sitze ich lieber halbnackt am Gleis 2, transpiriere wie Hölle, aule um mich herum und lasse den Hund die nun nicht mehr körpereigenen Säfte gepflegt auflecken. Spitzenplan soweit.
Der nächst Zug kommt ziemlich genau in zwei Stunden. Vermutlich werde ich den kriegen. Bin ja schon da. Wenn ich mich also nicht ganz blöd anstelle...
Wobei ich beim Dasein feststelle, dass ich dringend kacken muss. Ist wohl beim Laufen gesackt. Auch wenn der vermeintliche Bahnhof peripher in der Peripherie liegt: Soll ich jetzt auch noch halbnackt in die Büsche kacken?
Ich beobachte, wie sich die kleine, süße Hündin, wenn sie keine Aulen aufleckt, sich praktischerweise selber leckt - ist ja heiss das Tier. Und somit mitverantwortlich für dieser ganzen Schlamassel.
Darüber denke ich für mich jetzt besser gar nicht nach, auch wenn ich bereits halbnackig solo auf Gleis 2 sitze. Wäre wohl eh zu ungelenkig...
"Was tun?" um hier mal das dritte Leitmotiv der documenta 12 auf mein Kackbedürfnis zu beziehen. Das bloße Leben - Zug weg trotz engagierter Laufleistung bei pünktlichem Erscheinen auf Gleis 2 - hatte ich soeben erfahren. Und dass die Moderne unser Antike ist, lässt sich beim Anblick des Asbach uralt Zuges, dessen Rücklichter ich noch erblicken durfte und der diese Peripherie mit meiner geliebten Heimatstadt am Wochenende maximal im Zwei-Stunden-Takt verbindet, auch ohne Weiteres in Verbindung bringen.
Ein bisschen Schade, dass sich an diesem sonnigen Morgen des 21. Juli die "Migration der Form" am Gleis 2 circa 60 Sekunden zu früh zuträgt.
Aber irgendwie muss man als Angehöriger des Kommunikariats ja auch zu seinen absonderlichen Geschichten kommen.

Als ich nun so da sitze und das bunte (Zug-)Treiben beobachte, fällt es mir wie Schuppen vor den Augen und ich denke: "Du Vollidiot! Statt geschlagene zwei Stunden am Gleis 2 zu warten, hättest du auch von Gleis 1 aus noch eine Station genitalien, also Süden, fahren können." Dort befindet sich ein anständiger deutscher Bahnhof, an dem auch ICs und Regionalexpresse halten, die zwischenzeitlich mehrfach auf meinem samstagmorgendlichen Privatgleis an mir vorbeirauschen und mich hätten nach Hause bringen könnten.
Das fällt mir aber erst um 10.10 Uhr ein und auf. Und um 10.40 Uhr, wahrscheinlich mit Verspätung (Murphys Law), kommt mein Zug. Und wer soll um 8.40 Uhr schon solche kreativen Transferleistungen bringen? Zumal mir noch die Lunge schmerzt und ich kacken muss.
Bringt also jetzt nichts mehr die Aktion. Vor lauter Geschreibe ist der akute Kackbedarf in den Hinter(n)grund getreten. Jetzt muss ich tapfer sein und die Arschbacken zusammenkneifen, damit ich um 10.40 mitkomme.
Samstag, 21. Juli, Galaxis Milchstraße, Sonnensystem, Planet Erde, Zentral-Europa, Bahnhofsuhr, 10.39 Uhr: Nicht die Frisur, aber der Zug hält...
... und ich bin dabei.

Nun könnte man sich fragen, wie krank das eigentlich ist, die Geliebte hektisch zu verlassen und zum Zug zu rennen, um ihn dann auch noch zu verpassen, anstatt Brötchen zu holen und wieder zu Mutti ins Nest zu kriechen um sich möglicherweise anderen Erregungen als denen über verfrühte Zugverbindungen hinzugeben. Das ist genau der Punkt. Aber wie gesagt, die Hündin ist heiss. Soweit ein normaler biologischer Vorgang, der etwa zweimal jährlich vorkommt.
Problem: Muttis Monsterhund, ein Rüde der meiner Kleinen schon am Abend vorher wie magnetisch am Arsch klebte. Jetzt verstehe ich auch endlich den Gag mit dem kleinen schwarzen und weißen Plastikhund, mit denen wir als Kinder immer gespielt haben. Das hat mir nie jemand erklärt.
Im Wissen darum, dass sich eine Etage höher das heisse Tier befindet jault die blöde Sau von Hund die ganze Nachbarschaft zusammen. Nicht, dass ich davon was mitbekommen hätte, schlafe ich doch den Schlaf der vormals Erregten.
Aber die pubertierende Brut des Hauses fühlt sich ob des Gejauls um den Schlaf gebracht. Als es ihr zu bunt wird, lässt sie den Hund aus dem Wohnzimmer und der steht sofort Gewehr bei Fuß. Wo? Bei meiner Hündin natürlich.
Entspannt ist das jetzt nicht mehr wirklich.
Als ich den Hund dann wieder in sein Domizil verfrachte, werde ich von der pubertierenden Brut durch ihre Zimmertür angekeift: "Das geht schon die ganze Nacht so."
Das Spiel "Vati bringt Hund raus, Tochter des Hauses lässt ihn wieder rein, damit sie ihre Ruhe hat" geht also in die zweite Runde.
Danach entschließe ich mich, die heiligen Hallen zu verlassen. Das ist mir zu blöd.
Und Mutti bekommt davon in ihrem morgendlich-komatösen Zustand eh nicht mit, ob ich da bin oder nicht.

Überhaupt war der Vorabend eh schon schräg, auch ohne das Hundedrama. Erst rennt Muttis Monsterhund vor Begeisterung uns zu sehen inklusive Mutti auf die Straße und zwingt einen Quad-Fahrer ziemlich verschärft in die Eisen. Dann lade ich Mutti noch auf ein Getränk in die Dorfkneipe 20 Meter Luftlinie von ihrem Domizil entfernt ein und die Wirtin zwingt ihr nach 23 Uhr noch ein dienstliches Gespräch auf, obwohl sie Urlaub hat. Und dann kehrt die Tochter des Hauses heim und es ist außer dem Monsterhund niemand zu Hause und das Kind ängstigt sich, worüber dann noch pädagogisch wertvoll zwischen Erziehungsberechtigter und Nachwuchs debattiert werden muss, während ich schon mal ins Bett geschickt werde, weil es mich nichts angeht.
Warum sollte es dann ausgerechnet am nächsten Morgen runder laufen?
Der Rest der Geschichte ist bekannt...




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Kommentare

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Hans am :

Der Autor ist Sachse? ("Aule")

herwich am :

auch in Nordhessen wurde schon davon gehört...

Hans am :

Von Aule oder Autor?

herwich am :

von Aule(n)...

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