Anhörung: Eine Visite beim BAMF in Offenbach
Um 7.03 sind wir am Kasseler Hauptbahnhof verabredet, Sina, ein Freund und ich. Noch rasch etwas Proviant zugelegt, beim Bäcker in der Schlange mit lauter Männer stehen, die auch noch rasch was zum Essen kaufen wollen. Warum eigentlich nur Männer? Wir steigen in die Regionalbahn nach Frankfurt. Sina hat schlecht geschlafen, der Freund hat schlecht geschlafen, ich habe schlecht geschlafen. Heute ist Sinas Anhörung, in Offenbach, beim BAMF. Sina ist eine von den 745.545 Flüchtlingen, die 2016 nach Deutschland gekommen sind.
Aus ihrem Herkunftsland hat sich die Zahl der Geflüchteten seit 2015 mehr als verdreifacht. Wir sprechen ein wenig, schauen aus dem Fenster, schweigen. Ich traue mich nicht, viel zu sprechen, weil Deutschsprechen anstrengend ist und Sina ihre Kraft noch braucht. Nebel schwebt über der Eder, die Bäume stehen im weißen Flausch. Bei jeder Haltestelle sagt eine weibliche Stimme:" Bitte achten Sie beim Ausstieg auf den Spalt zwischen Tür und Bahnsteigkante." Wir wiederholen den Satz wieder und wieder im Chor und lachen. Sina holt ihre Unterlagen aus der Tasche, liest sie durch, spricht leise in ihrer Sprache mit dem Freund und steckt die Unterlagen wieder weg. Sie reibt ihre verkampften Hände. Im Zugabateil sitzt eine Frau mit Kopftuch, ein Mann, ein großes Mädchen und ein schreiendes Kleinkind. "Sie fahren auch nach Offenbach", meint Sina, die vom Kindergeschrei gestresst ist. Wir wechseln das Abteil. "Weißt Du, wie so eine Anhörung abläuft?" " Du bekommst einen Dolmetscher und einen, der fragt und Du musst alles erzählen." Im Brief der Rechtsanwältin steht, sie soll ausführlich und detailreich schildern, was ihr widerfahren ist und sich nicht zu knappen Aussagen drängen lassen. Ich weiß nicht viel darüber, was ihr geschehen ist, nur Andeutungen, die ich mir zusammengereimt habe.
In Frankfurt umsteigen in die S-Bahn auf Gleis 102. Der Freund kennt den Weg, Sina ist bereits einmal hierher gekommen, im Winter. Er hat 9 Stunden draußen in der Kälte gewartet, sie 9 Stunden drinnen und wurde wieder weggeschickt. Zuviel Andrang, eine Großfamilie war vor ihr an der Reihe. Diesmal komme ich mit, vielleicht hilft das. "Wie lange werden wir warten?" Wir wetten um Schokoladeneiskugeln. Sina meint zwei Stunden, ich meine drei, der Freund meint fünf. Das Anhörungszentrum des BAMF (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) hat seinen Sitz im Gebäude des Kernkraftbauers Areva, der im Juni 2016 in Offenbach dicht gemacht hat. Am Eingang und an einer Art Rezeption sitzen und stehen Security Leute eines privaten Unternehmens. Einer fragt nach den Unterlagen, ein anderer tippt in den Computer ein, wir legen unsere Ausweispapiere vor. "Kann ich mit zur Anhörung kommen?" frage ich. "Kommt auf den Sachbearbeiter drauf an, das kann der selbst entscheiden." Wir dürfen alle drei rein, es ist nicht so viel los im Moment. Im Herbst und Winter letzes Jahres war das anders, da standen die Menschen stundenlang draußen in der Kälte, ohne Verpflegung, ohne Getränke. Die Offenbacher Flüchtlingshilfe hat Alarm geschlagen. Wir gehen die Treppe hoch in den ersten Stock, den Wartebereich. Auf dem Flur sitzen Security Leute: " Zu den Ärzten?". Zur Anhörung sollen wir in eines der Wartezimmer. Es gibt das Familienzimmer und das Wartezimmer. Im Wartezimmer sitzen ausschließlich Männer, im Familienzimmer Frauen, Kinder und Männer. Ich gehe in das Männerzimmer, Sina möchte lieber ins Familienzimmer. Acht Frauen sitzen da, jede auf ihre Art bleich. Eine junge Frau mit ihrer zarten Mutter kommt aus dem Iran, sie schaut sehr ernst vor sich hin. Eine andere Frau mit braunem Kopftuch kommt aus Afghanistan, ihre Augen scheinen unbeweglich. Ab und an taucht ihr jugendlicher Sohn im Raum auf, setzt sich hin, steht wieder auf, geht raus. Einmal nähert sich ein älterer Herr, er scheint ihr Mann zu sein. Auf dem Gang geht eine Frau auf und ab, die Security Leute schicken sie ins Wartezimmer. Wir warten, wir wissen nicht, wann wir dran kommen.
Eine Frau trägt Apfelschnitze auf einem Teller von Zimmer zu Zimmer, sie werden gerne genommen. Die Lehrerin für Englisch und Französisch arbeitet sonst ehrenamtlich bei "Essen und Wärme" in Offenbach, dort bekommt man ein Essen für 1 €. Jetzt betreibt sie eine kleine Teeküche auf dem Flur mit Kaffee, Tee, Früchte und Kekse für die Flüchtlinge im Schichtbetrieb. Sie wird gerne besucht: "Als die Flüchtlinge auf zwei Stockwerken verteilt befragt wurden und 200 bis 300 Wartende drunten im Hof standen in der Kälte und ringsherum es nichts zu essen gab, da war das eine große Diskussion in Offenbach. Der Herr Wolf von der Flüchtlingshilfe hat dann die Initiative ergriffen." Die Teeküchen seien eingerichtet worden. Im Gegensatz zu manchen deutschen Damen, die seit Jahren bei "Essen und Wärme" am Essen herummäkelten und sich beschwerten, seien die hier dankbar. "Ja, ich weiß, wir können nicht alle aufnehmen. Aber wenn man die Menschen kennen lernt, dann möchte man doch, dass sie da bleiben dürfen." Und erzählt die Geschichte des Vaters ihrer Schwiegertochter. Der schimpfte ausgiebig über die Ausländer, so dass es bei Familientreffen regelmäßig schwierig wurde. Ausgerechnet er kam nach einer schweren Herz-Operation in ein Zimmer mit einem Schwarzafrikaner. "Der Neger, bei dem muss ich liegen." Nach der Entlassung hieß es. "Der ist ganz in Ordnung. Der ist allein, um den müssen wir uns kümmern."
Im Familienwartebereich sind inzwischen zwei Mädchen eingetroffen, eine muslimische Frau aus Kasachstan mit ihrer Tochter, die Rüschenpulover trägt und fein gezopfte Haare nach russischer Art. Sie packt ein rosarotes Tablet aus und spielt Lern- und Reaktionsspiele. Hin und her wischt sie auf der Oberfläche und schaut immer wieder zu dem anderen Kind, einem rundlichen Mädchen aus Syrien, das seiner Mutter das Smartphone stibizt hat und auch immer wieder zu ihr rüber schaut. Nebenbei tritt sie heimlich gegen den Kinderwagen, um ihren kleinen Bruder aufzuwecken, mit Erfolg. Fast alle im Raum beschäftigen sich mit ihren Smartphones. Ich packe mein Rollmehrzwecketui mit Malstiften aus und lege es offen hin. Mal sehen, ob eines der Kinder darauf anspringt. Das kasachische Mädchen schaut und kommt näher. Sie hat ein Malbuch und möchte einen Stift ausleihen. Gelb. Dann geht sie los, um sich ein Blatt zu organisieren. Ich gebe ihr den Fahrkartenausdruck. Nun werden wir aufgerufen. Ein freundlicher älterer Herr spricht Sina in ihrer Sprache an. Ich frage, ob ich mitkommen kann. Er meint, das hänge vom Sachbearbeiter ab. Der Sachbearbeiter kommt uns entgegen. Ich frage, ob ich mitkommen kann. "Wer sind Sie. Sind sie Rechtsanwältin oder Betreuerin?" "Ich begleite sie nur, wir kennen uns." Er zögert und stimmt dann zu. Über diese Entscheidung wird er später noch froh sein. Türen werden auf- und abgeschlossen.
Der Sachbearbeiter sieht aus wie man sich einen Polizisten vorstellt. Groß, breite Schultern,Kurzhaarschnitt und ohne erkennbare Emotion in Gesicht und Sprache. Er sitzt hinter dem PC an einem Tisch, direkt vor unserem Tisch, der Tisch des Dolmetschers steht quer. Die Tische bilden einen Block. Wir werden aufgefordert, Aufzeichnungsgeräte und Handys auszuschalten. Der Dolmetscher holt Wasser in einer Glaskaraffe mit Preisschild und stellt uns weiße Plastikbecher auf den Tisch. Wir nehmen dankend an. Sina zittert. Sie wird gefragt, ob sie lieber eine Sachbearbeiterin und eine Dolmetscherin haben möchte, wenn es um weibliche Dinge gehe. Nach dem klar ist, dass keine weibliche Dolmetscherin im Haus ist und Sina unverrichteter Dinge wieder abreisen müsste, verneint sie. Der Sachbearbeiter stellt Fragen zur Person, Herkunftsland, was sie von Beruf sei, welchen Bildungsabschluss sie habe, über welche Länder sie eingereist sei, ob sie Informationen über Verbrechen oder geplante Verbrechen auf ihrem Fluchtweg erhalten habe, wer ihr geholfen und sie begleitet habe, woher sie das Geld für die Flucht bekommen und was sie bezahlt habe. Der Dolmetscher übersetzt, ich höre Sinas Sprache zum ersten Mal über längere Zeit, sie klingt sehr weich und melodisch. Sina versteht mittlerweile ganz gut Deutsch und debattiert mit dem Übersetzer, der ihren Beruf falsch übersetzt hat. Ich mische mich ein und spreche mit. Mein Beitrag wird aufgenommen. Der Sachbearbeiter tippt, korrigiert, tippt und schaut nur ab und an zu Sina. Dann soll Sina berichten, warum sie geflohen ist. Die Fragen stellt der Sachbearbeiter im sachlichen Ton. Sina beginnt leise, der Dolmetscher übersetzt, schaut sie an. Sina spricht und spricht. Irgendwann beginnt sie heftig zu atmen, sie weint, springt auf, bekommt keine Luft mehr, rennt auf den Flur, wir hinterher. Sie ist in der Toilette. Der Sachbearbeiter ist zum ersten Mal aufgeregt: "Das darf sie nicht, das ist ein Sicherheitsrisiko." Ich gehe in die Toilette, bitte Sina, dass sie sich kaltes Wasser über die Hände fließen lässt und das Gesicht wäscht, versuche sie zu beruhigen. Wir setzen uns wieder. Sina erzählt, der Dolmetscher übersetzt, manchmal korrigiert Sina. Sie legt Beweise vor, zeigt Kopien von Mails, Flugtickert, Fotos. Manchmal wird sie nicht richtig verstanden, ich schalte mich ein, wir präzisieren, bis es klar wird. In der vierten Stunde der Anhörung schildert Sina die Gefahr, die für sie besteht. Wieder bekommt sie beim Weinen keine Luft mehr, stellt sich an die Wand und sinkt zusammen. Der Sachbearbeiter will einen Arzt holen, ich atme mit Sina aus und meine, dass das nicht nötig sein wird. Der Sachbearbeiter verlässt kurz den Raum, Sina kann wieder atmen und setzt sich. Ich schenke uns Wasser ein und biete dem Dolmetscher Wasser an, er lehnt erst ab, entscheidet sich um und nimmt Wasser von mir entgegen. Dann platzt es aus ihm heraus. Er schimpft über das Leid, das ihr zugefügt wurde, versteht die Menschen nicht und ist zornig. Als der Sachbearbeiter zurück kommt, beginnt das Vorlesen des Gesagten. Er hat jetzt ein Headset um und spricht ins Mikrofon. Der Sachbearbeiter liest vor, der Dometscher übersetzt, Sina korrigiert, der Dolmetscher korrigiert und stellt richtig. Ich verstehe ihre schreckliche Geschichte, aber sie wird mir nicht plausibel. Ganz zum Schluss bricht es aus Sina heraus. Nun sagt sie den Männern heulend, was der ganzen Tortur zu Grunde gelegen hat. Wir sind alle erschrocken. Sina weint, wir starren vor uns hin. Ich wage kaum, meine Hand auf ihren Rücken zu legen. Der Sachbearbeiter fragt, ob das noch rein müsse. "Aber natürlich, das ist wichtig," meint der Dolmetscher. Nach vier Stunden sind wir alle erschöpft. Die Anhörung ist beendet. Ich frage den Sachbearbeiter, wie er das aushalte, jeden Tag so viel Leid zu hören. Er meint, das war nicht das Schlimmste, korrigiert sich aber gleich und meint, als sie die vielen Anhörungen gehabt hätten und es wie am Fließband zuging, im Winter, das sei die Hölle gewesen. Jetzt habe es sich beruhigt und man habe Zeit. Er und der Dolmetscher geleiten uns bis zur Türe des Stockwerks, der Dolmetscher bis zum Warteraum. Die Türen werden abgeschlossen, wenn man das Stockwerk verlässt. Der Freund sitzt bleich im Warteraum, den Kopf in den Händen. Er hat ein Schokoladeneis gewonnen. Auf meinem Stuhl liegt das Bild des kasachischen Mädchens. Auf dem Weg zur U-Bahn treffen wir den Dolmetscher. Er hat Feierabend für heute. Ich frage ihn, wie er zu dieser Tätigkeit gekommen ist. Er hat Politologie und noch etwas studiert, was mir entfallen ist. Aber eigentlich sei er Erfinder. Wir plaudern, er weiß nicht, dass ich sehr bewandert bin in Berufsbiographien. Damit Sina noch etwas Schönes sieht, bevor wir in den Zug steigen, fahren wir zum Palmengarten. Die beiden Flüchtlinge bekommen keinen verbilligten Eintritt, weil wir uns nicht vorher angemeldet haben. Wir schlendern durch den Garten, essen alle ein Eis und schauen uns die Frühlingsblumen an. In die Gewächshäuser zieht es uns nicht. Der Freund meint: "Die Aue und die Orangerie sind schöner." Er spricht bereits sehr gut Deutsch, finde ich. Wir warten fast 2 Stunden auf den verspäteten Zug und unterhalten uns gelöst über Nebensächlichkeiten, Landschaften in Sinas Heimatland. Wir sind müde. Als der Zug einfährt, schauen wir noch aus dem Fenster oder lesen, bis wir in Kassel ankommen. Sina wird die folgenden Nächte nicht schlafen können, ich schon.
2016 standen 433.719 Asylanträge in Deutschland noch zur Entscheidung an, davon 417.076 Erstanträge und 16.643 Folgeanträge. Sina hat einen davon gestellt. Im Jahr 2016 wurden laut statistischem Bundesamt 695.733 entschieden, 256.136 wurden als Flüchtlinge eingestuft (36,8 % ), 153.700 erhielten subsidiären Schutz (22,1 %), für 24.084 wurde ein Abschiebeverbot festgestellt ( 3,5 %) und 173.846 werden abgeschoben (25,0 %). Und wir hoffen und warten.
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In Frankfurt umsteigen in die S-Bahn auf Gleis 102. Der Freund kennt den Weg, Sina ist bereits einmal hierher gekommen, im Winter. Er hat 9 Stunden draußen in der Kälte gewartet, sie 9 Stunden drinnen und wurde wieder weggeschickt. Zuviel Andrang, eine Großfamilie war vor ihr an der Reihe. Diesmal komme ich mit, vielleicht hilft das. "Wie lange werden wir warten?" Wir wetten um Schokoladeneiskugeln. Sina meint zwei Stunden, ich meine drei, der Freund meint fünf. Das Anhörungszentrum des BAMF (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) hat seinen Sitz im Gebäude des Kernkraftbauers Areva, der im Juni 2016 in Offenbach dicht gemacht hat. Am Eingang und an einer Art Rezeption sitzen und stehen Security Leute eines privaten Unternehmens. Einer fragt nach den Unterlagen, ein anderer tippt in den Computer ein, wir legen unsere Ausweispapiere vor. "Kann ich mit zur Anhörung kommen?" frage ich. "Kommt auf den Sachbearbeiter drauf an, das kann der selbst entscheiden." Wir dürfen alle drei rein, es ist nicht so viel los im Moment. Im Herbst und Winter letzes Jahres war das anders, da standen die Menschen stundenlang draußen in der Kälte, ohne Verpflegung, ohne Getränke. Die Offenbacher Flüchtlingshilfe hat Alarm geschlagen. Wir gehen die Treppe hoch in den ersten Stock, den Wartebereich. Auf dem Flur sitzen Security Leute: " Zu den Ärzten?". Zur Anhörung sollen wir in eines der Wartezimmer. Es gibt das Familienzimmer und das Wartezimmer. Im Wartezimmer sitzen ausschließlich Männer, im Familienzimmer Frauen, Kinder und Männer. Ich gehe in das Männerzimmer, Sina möchte lieber ins Familienzimmer. Acht Frauen sitzen da, jede auf ihre Art bleich. Eine junge Frau mit ihrer zarten Mutter kommt aus dem Iran, sie schaut sehr ernst vor sich hin. Eine andere Frau mit braunem Kopftuch kommt aus Afghanistan, ihre Augen scheinen unbeweglich. Ab und an taucht ihr jugendlicher Sohn im Raum auf, setzt sich hin, steht wieder auf, geht raus. Einmal nähert sich ein älterer Herr, er scheint ihr Mann zu sein. Auf dem Gang geht eine Frau auf und ab, die Security Leute schicken sie ins Wartezimmer. Wir warten, wir wissen nicht, wann wir dran kommen.
Eine Frau trägt Apfelschnitze auf einem Teller von Zimmer zu Zimmer, sie werden gerne genommen. Die Lehrerin für Englisch und Französisch arbeitet sonst ehrenamtlich bei "Essen und Wärme" in Offenbach, dort bekommt man ein Essen für 1 €. Jetzt betreibt sie eine kleine Teeküche auf dem Flur mit Kaffee, Tee, Früchte und Kekse für die Flüchtlinge im Schichtbetrieb. Sie wird gerne besucht: "Als die Flüchtlinge auf zwei Stockwerken verteilt befragt wurden und 200 bis 300 Wartende drunten im Hof standen in der Kälte und ringsherum es nichts zu essen gab, da war das eine große Diskussion in Offenbach. Der Herr Wolf von der Flüchtlingshilfe hat dann die Initiative ergriffen." Die Teeküchen seien eingerichtet worden. Im Gegensatz zu manchen deutschen Damen, die seit Jahren bei "Essen und Wärme" am Essen herummäkelten und sich beschwerten, seien die hier dankbar. "Ja, ich weiß, wir können nicht alle aufnehmen. Aber wenn man die Menschen kennen lernt, dann möchte man doch, dass sie da bleiben dürfen." Und erzählt die Geschichte des Vaters ihrer Schwiegertochter. Der schimpfte ausgiebig über die Ausländer, so dass es bei Familientreffen regelmäßig schwierig wurde. Ausgerechnet er kam nach einer schweren Herz-Operation in ein Zimmer mit einem Schwarzafrikaner. "Der Neger, bei dem muss ich liegen." Nach der Entlassung hieß es. "Der ist ganz in Ordnung. Der ist allein, um den müssen wir uns kümmern."
Im Familienwartebereich sind inzwischen zwei Mädchen eingetroffen, eine muslimische Frau aus Kasachstan mit ihrer Tochter, die Rüschenpulover trägt und fein gezopfte Haare nach russischer Art. Sie packt ein rosarotes Tablet aus und spielt Lern- und Reaktionsspiele. Hin und her wischt sie auf der Oberfläche und schaut immer wieder zu dem anderen Kind, einem rundlichen Mädchen aus Syrien, das seiner Mutter das Smartphone stibizt hat und auch immer wieder zu ihr rüber schaut. Nebenbei tritt sie heimlich gegen den Kinderwagen, um ihren kleinen Bruder aufzuwecken, mit Erfolg. Fast alle im Raum beschäftigen sich mit ihren Smartphones. Ich packe mein Rollmehrzwecketui mit Malstiften aus und lege es offen hin. Mal sehen, ob eines der Kinder darauf anspringt. Das kasachische Mädchen schaut und kommt näher. Sie hat ein Malbuch und möchte einen Stift ausleihen. Gelb. Dann geht sie los, um sich ein Blatt zu organisieren. Ich gebe ihr den Fahrkartenausdruck. Nun werden wir aufgerufen. Ein freundlicher älterer Herr spricht Sina in ihrer Sprache an. Ich frage, ob ich mitkommen kann. Er meint, das hänge vom Sachbearbeiter ab. Der Sachbearbeiter kommt uns entgegen. Ich frage, ob ich mitkommen kann. "Wer sind Sie. Sind sie Rechtsanwältin oder Betreuerin?" "Ich begleite sie nur, wir kennen uns." Er zögert und stimmt dann zu. Über diese Entscheidung wird er später noch froh sein. Türen werden auf- und abgeschlossen.
Der Sachbearbeiter sieht aus wie man sich einen Polizisten vorstellt. Groß, breite Schultern,Kurzhaarschnitt und ohne erkennbare Emotion in Gesicht und Sprache. Er sitzt hinter dem PC an einem Tisch, direkt vor unserem Tisch, der Tisch des Dolmetschers steht quer. Die Tische bilden einen Block. Wir werden aufgefordert, Aufzeichnungsgeräte und Handys auszuschalten. Der Dolmetscher holt Wasser in einer Glaskaraffe mit Preisschild und stellt uns weiße Plastikbecher auf den Tisch. Wir nehmen dankend an. Sina zittert. Sie wird gefragt, ob sie lieber eine Sachbearbeiterin und eine Dolmetscherin haben möchte, wenn es um weibliche Dinge gehe. Nach dem klar ist, dass keine weibliche Dolmetscherin im Haus ist und Sina unverrichteter Dinge wieder abreisen müsste, verneint sie. Der Sachbearbeiter stellt Fragen zur Person, Herkunftsland, was sie von Beruf sei, welchen Bildungsabschluss sie habe, über welche Länder sie eingereist sei, ob sie Informationen über Verbrechen oder geplante Verbrechen auf ihrem Fluchtweg erhalten habe, wer ihr geholfen und sie begleitet habe, woher sie das Geld für die Flucht bekommen und was sie bezahlt habe. Der Dolmetscher übersetzt, ich höre Sinas Sprache zum ersten Mal über längere Zeit, sie klingt sehr weich und melodisch. Sina versteht mittlerweile ganz gut Deutsch und debattiert mit dem Übersetzer, der ihren Beruf falsch übersetzt hat. Ich mische mich ein und spreche mit. Mein Beitrag wird aufgenommen. Der Sachbearbeiter tippt, korrigiert, tippt und schaut nur ab und an zu Sina. Dann soll Sina berichten, warum sie geflohen ist. Die Fragen stellt der Sachbearbeiter im sachlichen Ton. Sina beginnt leise, der Dolmetscher übersetzt, schaut sie an. Sina spricht und spricht. Irgendwann beginnt sie heftig zu atmen, sie weint, springt auf, bekommt keine Luft mehr, rennt auf den Flur, wir hinterher. Sie ist in der Toilette. Der Sachbearbeiter ist zum ersten Mal aufgeregt: "Das darf sie nicht, das ist ein Sicherheitsrisiko." Ich gehe in die Toilette, bitte Sina, dass sie sich kaltes Wasser über die Hände fließen lässt und das Gesicht wäscht, versuche sie zu beruhigen. Wir setzen uns wieder. Sina erzählt, der Dolmetscher übersetzt, manchmal korrigiert Sina. Sie legt Beweise vor, zeigt Kopien von Mails, Flugtickert, Fotos. Manchmal wird sie nicht richtig verstanden, ich schalte mich ein, wir präzisieren, bis es klar wird. In der vierten Stunde der Anhörung schildert Sina die Gefahr, die für sie besteht. Wieder bekommt sie beim Weinen keine Luft mehr, stellt sich an die Wand und sinkt zusammen. Der Sachbearbeiter will einen Arzt holen, ich atme mit Sina aus und meine, dass das nicht nötig sein wird. Der Sachbearbeiter verlässt kurz den Raum, Sina kann wieder atmen und setzt sich. Ich schenke uns Wasser ein und biete dem Dolmetscher Wasser an, er lehnt erst ab, entscheidet sich um und nimmt Wasser von mir entgegen. Dann platzt es aus ihm heraus. Er schimpft über das Leid, das ihr zugefügt wurde, versteht die Menschen nicht und ist zornig. Als der Sachbearbeiter zurück kommt, beginnt das Vorlesen des Gesagten. Er hat jetzt ein Headset um und spricht ins Mikrofon. Der Sachbearbeiter liest vor, der Dometscher übersetzt, Sina korrigiert, der Dolmetscher korrigiert und stellt richtig. Ich verstehe ihre schreckliche Geschichte, aber sie wird mir nicht plausibel. Ganz zum Schluss bricht es aus Sina heraus. Nun sagt sie den Männern heulend, was der ganzen Tortur zu Grunde gelegen hat. Wir sind alle erschrocken. Sina weint, wir starren vor uns hin. Ich wage kaum, meine Hand auf ihren Rücken zu legen. Der Sachbearbeiter fragt, ob das noch rein müsse. "Aber natürlich, das ist wichtig," meint der Dolmetscher. Nach vier Stunden sind wir alle erschöpft. Die Anhörung ist beendet. Ich frage den Sachbearbeiter, wie er das aushalte, jeden Tag so viel Leid zu hören. Er meint, das war nicht das Schlimmste, korrigiert sich aber gleich und meint, als sie die vielen Anhörungen gehabt hätten und es wie am Fließband zuging, im Winter, das sei die Hölle gewesen. Jetzt habe es sich beruhigt und man habe Zeit. Er und der Dolmetscher geleiten uns bis zur Türe des Stockwerks, der Dolmetscher bis zum Warteraum. Die Türen werden abgeschlossen, wenn man das Stockwerk verlässt. Der Freund sitzt bleich im Warteraum, den Kopf in den Händen. Er hat ein Schokoladeneis gewonnen. Auf meinem Stuhl liegt das Bild des kasachischen Mädchens. Auf dem Weg zur U-Bahn treffen wir den Dolmetscher. Er hat Feierabend für heute. Ich frage ihn, wie er zu dieser Tätigkeit gekommen ist. Er hat Politologie und noch etwas studiert, was mir entfallen ist. Aber eigentlich sei er Erfinder. Wir plaudern, er weiß nicht, dass ich sehr bewandert bin in Berufsbiographien. Damit Sina noch etwas Schönes sieht, bevor wir in den Zug steigen, fahren wir zum Palmengarten. Die beiden Flüchtlinge bekommen keinen verbilligten Eintritt, weil wir uns nicht vorher angemeldet haben. Wir schlendern durch den Garten, essen alle ein Eis und schauen uns die Frühlingsblumen an. In die Gewächshäuser zieht es uns nicht. Der Freund meint: "Die Aue und die Orangerie sind schöner." Er spricht bereits sehr gut Deutsch, finde ich. Wir warten fast 2 Stunden auf den verspäteten Zug und unterhalten uns gelöst über Nebensächlichkeiten, Landschaften in Sinas Heimatland. Wir sind müde. Als der Zug einfährt, schauen wir noch aus dem Fenster oder lesen, bis wir in Kassel ankommen. Sina wird die folgenden Nächte nicht schlafen können, ich schon.
2016 standen 433.719 Asylanträge in Deutschland noch zur Entscheidung an, davon 417.076 Erstanträge und 16.643 Folgeanträge. Sina hat einen davon gestellt. Im Jahr 2016 wurden laut statistischem Bundesamt 695.733 entschieden, 256.136 wurden als Flüchtlinge eingestuft (36,8 % ), 153.700 erhielten subsidiären Schutz (22,1 %), für 24.084 wurde ein Abschiebeverbot festgestellt ( 3,5 %) und 173.846 werden abgeschoben (25,0 %). Und wir hoffen und warten.
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Gertrud Margot Salm am :
MR am :