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Ängste und Besorgnisse

Regelmäßig tauchen im Zusammenhang mit Meldungen über Rechtsradikalismus, EU-Austritt, Fremdenfeindlichkeit oder Parteienverdrossenheit diese beiden Begriffe auf.

Die Bürger sind besorgt wegen der drohenden Überfremdung, sie haben Ängste, weil plötzlich internationale Krisen in ihr kleinbürgerliches Reich einzudringen drohen.

Sind wir ein Volk von Sensibelchen? Sind wir nach über 70 Jahren Frieden verweichlicht? Haben die Amerikaner Recht, wenn sie über die „German Angst“ spotten?
Am Anfang schien es klar: Was sich da als „besorgte Bürger“ präsentierte, waren in erster Linie die sich abgehängt fühlenden Menschen im Osten. 40 Jahre Sozialismus, überfallartige Eingemeindung in den Westen – um sich dann am untersten Ende der Skala wiederzufinden. Das bildet den Nährboden für eine Radikalisierung. Es kamen die Rattenfänger, die zunächst bei den unteren Bildungsschichten das Bedürfnis weckten, sich zu artikulieren. Das Vokabular haben sie gleich mitgebracht, den Älteren war es ohnehin noch geläufig. So entstand der „Wutbürger“.

Betrachtet man die reale Situation dieser Menschen, dann muss man zugeben, dass sie gute Gründe für ihre Unzufriedenheit haben. Des weiteren muss man zugeben, dass die Politik das Problem übersehen und so den Rechten das Feld überlassen hat.

Und dann übernahmen die Soziologen und Psychologen die weitere Deutung der Geschehnisse. Man müsse das verstehen, wenn die Abgehängten und Bildungsfernen in einer Zeit dynamischen Wandels Ängste und Sorgen entwickelten. Schließlich seien sie auf solche Umwälzungen nicht vorbereitet gewesen. Als notorische Konfliktbereiniger definierten sie die von den rechten Einpeitschern entfachte „Wut“ der Bürger als „Ängste“ und „Sorgen“.

Das sind zwei Begriffe, die man im rustikaleren Milieu, vulgo „Unterschicht“, eher nicht verwendet. Bedeuten sie dort so etwas wie Weichei und Opfer. Gleichwohl bemerkt es der Wutbürger, dass er nun als schwächliches Opfer äußerer Umstände definiert wird – und ist prompt wütend darüber. Die Rechnung der Rattenfänger geht auf: Jetzt sind es nicht nur die Asylanten und islamistischen Terroristen, die ihre heimische Idylle bedrohen, nein jetzt kommen auch noch die da oben von der Politik und erklären sie für wehrlose Opfer. Die Wut richtet sich gegen das Establishment, gegen die Politiker, gegen die Regierung, gegen den Staat insgesamt. Die Folge ist, dass Spinner und Sektierer wie zum Beispiel die „Reichsbürger“ plötzlich Morgenluft wittern und mit ihren bescheuerten Ideen eine ebenso riesige wie unangemessene Medienpräsenz bekommen.

Spätestens hier springt eine Gemeinsamkeit mit Trump und seinem Goebbels Steve Bannon ins Auge. Sie haben es geschafft, mit unverfrorenen Lügen und Hetzereien gegen imaginäre Gefahren die Ahnungslosen im Landesinneren der USA so weit in Rage zu versetzen, dass sie einem kranken Egomanen und seinen faschistoiden Einflüsterern die Macht überlassen haben. Wie sagte weiland 1933 der Führer: Deutsches Volk, gib mir vier Jahre Zeit...

Wir sind mal wieder auf dem besten Wege, es den USA gleich zu tun. Früher hieß es: was die USA machen, machen wir fünf Jahre später nach. Das gilt immer noch, nur der Zeitabstand ist verkürzt!

Es ist und bleibt eine (nicht-„alternative“) Tatsache, dass heute viele europäische Länder ein hausgemachtes Problem mit der rechtslastigen Bürgerwut haben. Prekäre Beschäftigung, Lohndumping, Sozialabbau, marodes Bildungswesen: alles Dinge, die der Wirtschaft nutzen und den Kleinen die Perspektive nehmen. Wirtschaft und wirtschaftshörige Politiker – das sind die wahren Übeltäter.

Und sie beide verstehen es wunderbar, die Wut auf den berühmten Feind von außen umzuleiten. Denn die Wirtschaft zieht erstens die Strippen dezent von hinten und hat es zweitens gut hinbekommen, sich als Arbeitgeber und damit als unangreifbar zu positionieren. Wer beißt schon die Hand, die ihn füttert?
Was bleibt? Wieder der aktuelle Blick die USA: Es ist der Feind von außen, der islamistische Terrorist mit dem US-Visum, der illegale Latino und diejenigen Konzerne, die ihre Produkte in den USA verkaufen, aber sie woanders produzieren.

Es kommt in den USA sogar noch besser. Da erscheint ein Möchtegern-Autokrat und verspricht neben Vollbeschäftigung in toten Branchen gleichzeitig noch, dass er dem Finanzsektor und der maroden Regierung den Krieg erklärt. Und zu diesem Zwecke holt er sich als Berater genau die Zocker und Verbrecher, die 2008 die Finanzkrise angezettelt haben, die zahllose Kleinbürger um Haus und Hof gebracht hat. Zum Glück ist die andere Hälfte der Amerikaner nicht so verblödet, dass sie es nicht merkt. Die eindrucksvollen Demonstrationen in den Großstädten machen Mut. Aber gleichzeitig ertönt das Stammtischgejohle der Trumpisten aus den endlosen Weiten der Prärien.

Dann wollen wir mal sehen, wie es 2017 in Europa weiter geht. Ich mache mir keine Hoffnungen, dass die Wutbürger, die Ängstlichen und die Besorgten begreifen, dass sie gnadenlos verschaukelt werden.

Aber der andere Teil der Bevölkerung, der sollte langsam mal begreifen, dass da welche an seinem Lehnstuhl sägen. Der hätte einen triftigen Grund, ängstlich und besorgt zu sein. Einen verdammt guten Grund, den eigenen Hintern zu bewegen – spätestens in diesem Herbst bei den Bundestagswahlen.

Lieber Leser, Du hast richtig gelesen: Im vorletzten Absatz steht "2017". Dieser Artikel ist knapp drei Jahre alt. Es ist doch schön zu sehen, dass man etwas beinahe zeitlos Gültiges geschrieben hat.

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Kommentare

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MR am :

Lieber Wolfgang, Du weißt, dass ich etwas gegen die Parole "der Bürger sollte langesam mal begreifen" etwas einzuwenden habe. Das sind die müden Reste einer Belehrungs-Pädagogik ohne Effekt.
Deine Diganose teile ich weitgehend. Auch ist es schade, dass für wahnsinnige Kriegstreiber wie Trump Alkatraz nicht mehr zur Verfügung steht.

Marlis Cavallaro am :

Ja, lieber Wolfgang, Dein eindringlicher Text ist tatsächlich aktuell geblieben.

Was "Soziologen und Psychologen" betrifft, so hätten Psychologen der Art, auf die Du Dich beziehst, wegen oberflächlichen Gewäschs ihre Berufsbezeichnung nicht verdient - es wäre eventuell ein "Küchen-" oder "Stammtisch-" davor zu setzen.

Die Frage, warum Menschen zum Faschismus beziehungsweise zum Rassismus neigen, kann mit "Ängste und Sorgen", mit "abgehängt worden sein" und mit "aufgehetzt worden sein", aber auch mit "nicht aufgeklärt sein", "nicht begriffen haben" , nicht hinreichend beantwortet werden.
Psycho-logisch und sozio-logisch muss die Frage lauten: Warum denn lassen sich manche Menschen, die Existenzängste und Sorgen haben, abgehängt und schwer benachteiligt wurden oder sich fühlen und "bildungsfern" blieben, aufhetzen und zu Hass auf Schwächere bringen, aber andere in der gleichen abgehängten, bildungsfernen, von Aufhetzern beschallten, angst- und sorgenvollen Lage nicht ???
Und warum lassen sich Leute ohne Existenzsorgen und mit Bildung durch Studium und wohldotierten Berufen aufhetzen? Warum hetzen sie selber? Warum hassen Gutgestellte, Gebildete ebenfalls in großem Ausmaß, und richten die Abneigung besonders gerne gegen Arme, Abgestürzte, Behinderte?

Warum sind Andere in der gleichen abgehängten Lage nicht selten sogar aktiv mitfühlend und solidarisch mit noch elenderen Abgehängten, warum richten diese Anderen in der gleichen schlechten Lage nicht auch Hass auf noch Schwächere?

Warum immunisiert es Viele in keiner Weise gegen die Hetze und gegen das Nazis wählen, wenn ihnen erklärt wird, dass das faschistisch ist, oder dass das gefährlich ist, oder was das alles schon mal angerichtet hat, oder welchen Interessen im Hintergrund es dienen könnte?

Warum geht Menschlichkeit nicht so einfach über Wissen und Aufklärung? Was hält die einen immun, die anderen hingegen nicht - obwohl sie alle über Faschismus aufgeklärt und belehrt wurden?

Im Grunde sind das ähnliche Fragen wie die in der Erforschung der Pest und anderer Seuchen: Noch interessanter als die Frage nach dem Erreger des Schwarzen Todes, nach der Schwere der Infektion ist die Frage nach denen, die das massenhafte Dahingerafftwerden überlebten - die entweder trotz Kontaktes zu Erkrankten sich nicht ansteckten oder sogar von einer Infektion genasen. Warum?

Hilflos wurde zeitweilig in TV-Diskussionen öfters AfDlern entgegengehalten: "Aber das ist ja rechts!" "Aber das ist ja faschistisch" "...aber das sagt ja in etwas anderen Worten genau das Gleiche wie die damals".....Jaaaa. Und? Die Leute bezeichnen sich mittlerweile ganz stolz als "rechts". Sie freuen sich darauf, uns zu "treiben", wenn sie können und dieses Mal nicht nur "einen Vogelschiss" zu produzieren.

Psycho-logisch ist einigermaßen erklärbar, und heute angesichts der modernen Hirnforschung vertieft und weiter entwickelt, welche psychologischen und Denk- Strukturen in Kombination mit Benachteiligung, "Ängsten" und "Sorgen" zu faschistischen Neigungen beitragen (und umgekehrt) und wodurch diese psychologischen und Denk-Strukturen entstehen. Solange das nicht zum öffentlichen Thema wird und solange sich hier und in der Welt die Praxis, die solche Charaktere schafft, nicht wandelt, bleiben Antifaschismus und Antikriegsengagement oberflächlich - denn sie können stets nur das, was immer wieder nachwächst, notdürftig im Zaum zu halten und zurückzudrängen versuchen.Das Nachwachsen beeinflussen zu können, darauf käme es an.

Ein sehr guter älterer Diskussionsbeitrag ist das Buch "Schmerzgrenze" des Neurowissenschaftlers, Arztes und Therapeuten Prof.Dr.med. Joachim Bauer.

Mehrere ältere und neuere informative Vorträge und Schriften zu den Ergebnissen der Hirnforschung gibt es u.a. vom mittlerweile ziemlich bekannten Prof. Gerald Hüther
... auch von Neurologe und Psychologe Prof. Arno Grün ("Der Wahnsinn der Normalität", "Der Verrat am Selbst",
"Wider den Gehorsam"), und anderes.

Ein neuer *Beitrag*, direkt zum Aktuellen der letzten Jahre geschrieben, kommt von Kinderarzt Dr. Herbert Renz-Polster - "Erziehung prägt Gesinnung-Wie der weltweite Rechtsruck entstehen konnte...."
https://www.kinder-verstehen.de/buch/erziehung-praegt-gesinnung/

Wolfgang am :

Danke Marlis, für die ausgewogene Darstellung.

Im übrigen geht es mir nicht mehr um den Versuch zu belehren, wie Herr R. geruht zu kritisieren. Denn leider setzt sich bei allen jenen, die das immer wieder versucht haben, die Erkenntnis durch, dass der Wille zum Dialog bei dieser Gruppe schlicht nicht vorhanden ist.

Es sieht also übel aus um die Zukunft, sowohl klimatechnisch als auch sozial. Es ist zweimal fünf NACH Zwölf. Man mag sich gar nicht vorstellen, welche Sprengkraft die Parallelität dieser beiden Entwicklungen entfalten wird.

Marlis Cavallaro am :

Lieber Wolfgang - mein Beitrag war als Ergänzung zu Deinem gemeint.

Auch Vertiefungen des Themas ändern allerdings leider nichts daran, das es übel aussieht. Die Sache mit dem Prinzip Hoffnung braucht inzwischen seelisches Heldentum....

Für Nachdenk-Vertiefung und für Argumente im Dialog da, wo er noch möglich ist, ist das Buch von Herbert Renz-Polster bestens geeignet - auch als Weihnachtsgeschenk

Veronika Baier am :

Ob man/frau Hoffnung hat, ist eigentlich egal. Wer sich im Spiegel noch angucken möchte, dem/der bleibt kaum etwas Anderes möglich, als den eigenen Hintern zu bewegen - auf diese oder jene Art, in diesem oder jenem Bereich -, je nachdem, wo man/frau sich einigermaßen kompetent fühlt oder wohl fühlt, und möglichst noch andere Menschen mitnehmen kann.

MR am :

Ja so werden die Bälle hin- und hergeschoben. Es gibt die Belehrbaren und die Unbelehrbaren. Wir sind die Belehrten, und da gibt es das große Heer der Unbelehrten. Wir kriegen ewas aber offennsichtlich nicht hin: sie mit der Waffe der Vernunft (18.JH.) umzudrehen. Es bleiben die sinnlosen Appelle.
Ein knackiger Entwurf für eine neue Politik wäre sicher sinnvoller.

klaus baum am :

Seit Belehrungen zwischen den Menschen erkanntermaßen müßig sind, belehre ich mich nur noch selbst.

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