Skip to content

„Immer noch ein See voll Tränen“

Am Sonntag, den 22. Mai präsentierte das Bali-Kino den neuen Dokumentarfilm von Andreas Fischer „Töchter ohne Väter“.

Sie starben an der Ostfront, in der Kriegsgefangenschaft oder gelten seit dem Ende des Krieges als vermisst. Was haben die Soldaten des zweiten Weltkriegs ihren Töchtern hinterlassen? Was haben die Mütter ihnen übermittelt? Wie gingen die Familien mit der Lücke um, die der Vater hinterließ? Diesen und vielen weiteren Fragen wendet sich in seinem neuen Dokumentarfilm „Töchter ohne Väter“ Andreas Fischer zu. Bereits 2007 hatte sich der Regisseur in „Söhne ohne Väter“ mit der Thematik auseinandergesetzt. „Ich habe viele positive Rückmeldungen erhalten, die einzige Kritik bezog sich auf die Ausgrenzung des weiblichen Geschlechts. Was ist mit den Töchtern?“, berichtet Andreas Fischer. Die Beantwortung dieser Frage gestaltete sich schwierig, denn keine Redaktion wollte „eine Dublette“ riskieren. Darüber hinaus gab es nur wenige Frauen, die sich einen Auftritt vor der Kamera zutrauten. „Dies ha sich vor zwei Jahren geändert“, so Fischer. Er telefonierte mit 50 Kontakten und wählte anhand des einstündigen Gesprächs die neun Interviewpartnerinnen aus, zu denen er sich einen ganzen Tag lang ins Wohnzimmer setzte und zuhörte. Anschließende erarbeitete er behutsam und mit viel Einfühlungsvermögen in 8 Monaten aus 60 Stunden Videomaterial einen 90-minütigen Film. „Das waren nicht die einfachsten Monate meines Lebens“, gesteht der Regisseur.

20-50 Millionen Voll- oder Teilweisen
Die auf diese Weise entstandene und mit einer kleinen Förderung der Gerda-Henkel-Stiftung subventionierte freie Produktion präsentierte am Sonntag, den 24. Mai, das Bali-Kino. Trotz des sonnigen Wetters bildete sich kurz vor 14 Uhr eine lange Schlange an der Kinokasse. Den Großteil der Interessierten bildeten dabei Frauen und Männer, die das Schicksal der Protagonistinnen teilen. Auch der Moderator Prof. Hartmunt Radebold verbindet mit dem Thema eine persönliche Erfahrung. Als Kriegskind ohne Vater war er bereits im ersten Film ein Interviewpartner von Andreas Fischer. Als Psychiater forschte er lange zu der Thematik und behandelte Kinder, die ohne Väter aufwuchsen. „Der zweite Weltkrieg hinterließ in Europa 20-50 Millionen Voll- oder Teilweisen. Die Mädchen wurden erst in den letzten Jahren als eine wichtige Gruppe von der Forschung anerkannt“, berichtet Radebold. Nach seiner kurzen Einführung beginnt der Film.

„Mein Vater hatte keine Schwächen“
Das Szenario ist einfach: Eine nach der anderen erscheinen die Protagonistinnen auf der Leinwand und berichten über die Ereignisse aus ihrem Leben. Fotos, Briefe und Bilder untermalen ihre Stimmen. Hin und wieder erscheint auf einem schwarzen Hintergrund in weiß eine Überschrift, welche die Berichte der Frauen in kurze Kapitel gliedert. „Es ist immer noch ein See voll Tränen. Immer noch“, betont gleich zu Beginn eine der Frauen und leitet damit die zum einfachen Szenario oppositionelle schwere Thematik ein. Es folgen Berichte über die Mütter und Väter. Das woran man sich erinnert oder eben nur das, was erzählt wurde. „Mein Vater hatte keine Schwächen“, sagen die einen, während die anderen von Jähzorn und aufbrausendem Charakter sprechen. Die Protagonistinnen berichten über die schrecklichen Dinge, die ihre Väter in den Briefen schilderten und schließlich von ihrem Tod und dem schrecklichen Schweigen, welches die Familien nach dem Verlust umhüllte. „Meine Mutter ging in den Keller, schrie laut, kam zurück, nahm alle Bilder ab und sagte: Wir sprechen nicht mehr darüber“ – der Vater war ein Tabu-Thema, das haben alle Frauen gemeinsam. Während die Mütter ihre Trauer bewältigten, ließen sie die Kinder mit ihrer Trauer und Ungewissheit allein, was häufig ein gestörtes Verhältnis zur Folge hatte, unter dem die Töchter zusätzlich litten. Die geschilderte Beziehung zum Vater ist dagegen ambivalent. Während sich die Frauen auf der einen Seite fragen, wie weit er in das Nazi-Regime verstrickt war, schildern sie auf der anderen eine große Sehnsucht nach dem Mann, den zu kennen ihnen nur eine kurze Zeit oder auch gar nicht vergönnt war.

„Es hat nie jemand gefragt“
Den emotionalen Berichten der „Heldinnen“, wie sie Andreas Fischer bezeichnete, folgte eine Gesprächsrunde mit dem Regisseur und Bettina Hausmann, einer der Protagonistinnen. „Es hat nie jemand gefragt. Ich durfte nie darüber reden, deshalb war ich dankbar für die Möglichkeit. Es war ein erneuter heilender Prozess. Ich durfte den ganzen Tag erzählen, ohne Ratschläge und heilende Psychoanalyse“, antwortet Bettina Hausmann auf den Dank von Andreas Fischer für das entgegengebrachte Vertrauen. Als die Diskussion an das Publikum weiter gegeben wurde, konnte man weitere Schicksale vernehmen, die teilweise unter Tränen durch den Raum hallten. „Ich habe noch nie solche Offenheit erlebt“, sagt eine Frau aus dem Publikum. „Mir wurde klar, was für ein Schatz es war, meinen Vater etwas länger kennen lernen zu dürfen“, ist der Fazit einer anderen. Im Gespräch kommen weitere Facetten der Thematik zum Vorschein. „Sprecht, sprecht, sprecht mit euren Kindern“, rät Bettina Hausmann den Kinogästen in Bezug auf die Frage nach den folgenden Generationen, die in traumatisierten Familien immer noch unter den Grauen des zweiten Weltkrieges leiden. Zu Schluss ergreift der Regisseur erneut das Wort: „Ich hoffe, der Film bringt uns alle ein Stück weiter.“

Trackbacks

Keine Trackbacks

Kommentare

Ansicht der Kommentare: Linear | Verschachtelt

Noch keine Kommentare

Kommentar schreiben

Umschließende Sterne heben ein Wort hervor (*wort*), per _wort_ kann ein Wort unterstrichen werden.
Die angegebene E-Mail-Adresse wird nicht dargestellt, sondern nur für eventuelle Benachrichtigungen verwendet.
Um einen Kommentar hinterlassen zu können, erhalten Sie nach dem Kommentieren eine E-Mail mit Aktivierungslink an ihre angegebene Adresse.

Um maschinelle und automatische Übertragung von Spamkommentaren zu verhindern, bitte die Zeichenfolge im dargestellten Bild in der Eingabemaske eintragen. Nur wenn die Zeichenfolge richtig eingegeben wurde, kann der Kommentar angenommen werden. Bitte beachten Sie, dass Ihr Browser Cookies unterstützen muss, um dieses Verfahren anzuwenden.
CAPTCHA

BBCode-Formatierung erlaubt
Formular-Optionen