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Nordhessen im Fortpflanzungs-Streik

Die im Jahresbericht 2011 des Statistischen Landesamtes veröffentlichten Zahlen sprechen eine deutliche Sprache. Im Gebiet der sog. alten Bundesländer gibt es wohl kaum eine zweite Region, in der das Verhältnis von Todesfällen zu Geburten so unausgeglichen ist, wie in Nordhessen.







Im 1. Halbjahr 2010 starben in Kassel, im Landkreis Kassel und den vier nordhessischen Provinz-Landkreisen Schwalm-Eder, Waldeck-Frankenberg, Hersfeld-Rotenburg und Werra-Meissner 6.682 Menschen, aber nur 4.184 wurden geboren. Negativ-Spitzenreiter ist der Werra-Meissner-Kreis, wo bei einem Verhältnis von 640 zu 310 nicht einmal halb so viel Menschen das Licht der Welt erblickten wie starben. Augenfällig ist auch die Situation im Schwalm-Eder-Kreis, wo 591 Geburten 1027 Sterbefälle gegenüber standen.

Nun denkt man: Die jungen Leute im Familiengründungs-Alter zieht es eben in die Grossstädte, - vielfältiges Kulturangebot, mehr und bessere Jobs, variable Arbeitszeiten ermöglichen keine langen Pendlerfahrten mehr. Tatsächlich könnte man aus den südhessischen Daten eine solche Entwicklung ablesen. Denn auch in ländlichen Landkreisen Südhessens gibt es einen Überhang der Sterbefälle über die Geburten. In den südhessischen Grossstädten jedoch sieht das anders aus. In Frankfurt, Darmstadt und Offenbach wurden im genannten Zeitraum mehr Menschen geboren als starben, in Wiesbaden gab es einen nur geringfügigen Überhang der Sterbefälle. Die Entwicklung in der nordhessischen Grossstadt Kassel aber ging nicht in diese Richtung. Hier starben zwischen Januar und Juni 2010 1046 Menschen und nur 803 wurde geboren.

Dennoch drückt sich in dem Fortpflanzungs-Streik natürlich zunächst einmal weniger ein nordhessisches Spezifikum aus. Die Entwicklung ist in vielen kapitalistischen Kernstaaten anzutreffen und hat vielfältige sozio-kulturelle Aspekte. Die wichtigste Ursache für den Fortpflanzungs-Streik aber ist wohl die soziale Unsicherheit, in der junge Leute heute leben. Die Prekarisierung und Flexibisierung von Arbeitsverhältnissen, häufig vermittelt über die in Kassel besonders üppig vertretenen Zeitarbeitsfirmen, und die Anforderung quasi global mobil zu sein, die den Aufbau gefestigter famliärer und nicht-familiärer Sozialstrukturen erschwert, lassen den Gedanken an Kinder oft erst gar nicht aufkommen.

Die Nordhessen kennzeichnende Komponente ist aber sicherlich die fortgesetzte strukturelle Schwäche der nordhessischen Wirtschaft mit niedriger Kaufkraft und speziell dem sehr geringen Angebot an Jobs im Bereich der Dienstleistungen mit hoher Wertschöpfung. Aber nachdem Kassel erst jüngst vom neoliberalen Think-Tank "Neue-Soziale-Marktwirtschaft" zur "dynamischsten Grossstadt Deutschlands" ausgerufen wurde, kann man eine offene Diskussion über diese Probleme wohl nicht mehr erwarten.

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Kommentare

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Lüder Kriete am :

Wozu sollte man hier auch eine offene Diskussion erwarten? Diese paar Jahre Wartezeit, bis das ganze hier grüne Wiese ist, sind ja absehbar. Da kann man doch eigentlich nur wünschen, dass das Lange Feld ein ganz laaannges wird - vielleicht sogar mit integrieter Rennbahn für apokalyptische Reiter.

Der Babba am :

Vielleicht haben die Leute einfach keine Lust, sich die freizeit mit quengelnden Blagen zu versauen.

Auch ein Papa am :

Dass Sie gegen das Lange Feld als Gewerbegebiet sind, lasse ich Ihnen ja nich durchgehen, Herr Kallok. Ne andere Meinung ist OK. Aber Ihre Analyse der nordhessischen Wirtschaft, insbesondere im Wirtschaftsraum Kassel, zeugt von eklatanter Unkenntnis.

Auch ein Papa am :

zu schnell getippt, sollte heißen: "ja noch durchgehen".

Richard Kallok am :

Mit dem "Langen Feld" habe ich mich nicht befasst. Im übrigen verweise ich auf meinen Artikel vom 25.9.2010 "Bei der Leiharbeit ist Kassel wirklich Spitze".

MR am :

"Fortpflanzungs-Streik" ist natürlich schonmal eine prima Schlagzeile, Kompliment: sofort bei der HNA bewerben! Die sog "Singelisierung" ist ein längst bekanntes Phänomen, das sich schlicht aus der mangelnden Ertragskraft des Kinderzeugens (incl. der schrecklichen Kollateralschäden wie Babygeschrei etc.) erklären dürfte. Wenn es in der nordhessischen "Strukturschwäche" Besonderheiten geben sollte, liegen sie im Trend. Wo soll dann auch die "offene Diskussion" herkommen, wenn sie als halb-resignative "Systemkritik" rüberkommt. Dann doch gleich richtig: Ich empfehle die PC-gestützte Wiedereinführung kommunistischer Planwirtschaft. Der Kapitalismus hat doch eh nichts mehr zu tun, als staatsgestützt Spekulationsgewinne zu sortieren und sich an seine glorreiche Vergangenheit zu erinnern!

Rudi am :

Na klar, was diese Welt am dringendsten braucht, sind viele ressourcenfressende Bewohner der industrialisierten Welt. Und wenn die Menschlein sich mal weniger vermehren wie die Karnickel, kommt das Jammern.

thomas am :

Vielleicht ist es ja alles nur das Resultat einer erfolgreichen Anti-Aids Kampagne.
Kondome können zu Kinderlosigkeit führen.

Lüder Kriete am :

Das ist doch mal ein Argument, das mir uneingeschränkt gefällt! - Ob's auch stimmt lassen wir aber mal geschützt.

Gertrud Salm am :

Streik ist ein Mittel, um Tarifverhandlungen erfolgreich abschließen zu können.

Kasseler am :

Die einzigen Strukturprobleme offenbaren sich in den Rechenkünsten. Allen Milchmädchen sei gesagt: Die Summe der Sterbefälle minus der Summe der Geburten reicht für ein Gesamtbild nicht aus. Hinzu kommt noch die Bilanz aus Zuzug und Wegzug. Wenn Kassel zum Jahresende 2011 dann ca. 1300 bis 1400 mehr Einwohner zählt als zu Jahresbeginn, dann wird hier umsonst gejammert. Kassel boomt, auch wenns nicht ins Weltbild passt. Nicht nur weil die böse Wirtschaft mit ihrem guten Branchenmix floriert, sondern weil es sich gut leben lässt. Lebensqualität super: Auch das hat hat der neoliberale Think-Tank herausgefunden. Was den Bocksgesang weiter anschwellen lassen dürfte ;-)

Lüder Kriete am :

Strukturprobleme sind NUR die Offenbarung von Rechenkünsten??? Mein lieber Kasseler, wie wär's, wenn Du diese "Problematik" mit Hilfe eines Umzugs in die Kasseler Nordstadt wiederlegst?

Kasseler am :

Jepp, in ein paar Jahren ist das ein neues In-Quartier nicht nur für Studenten. Oder wollten Sie den Nordstadtbewohnern mit Ihrem Statement mal wieder vor Augen führen, wie elend sie hier leben? Und was stellen Sie sich vor, wo und wie ich lebe? Ich sags Ihnen: Goldene Wasserhähne, in jedem Zimmer ein Billiardtisch und mein Hund wohnt in einer marmorgefließten Hundehütte. Hoch lebe das Vorurteil lol

Kunta Kinte am :

Was die Nordstädter sich an Projektionen gefallen lassen müssen, ist schon abenteuerlich.

Barbara am :

Wachsende Geburtsraten sind ebenso wie Wachstumsraten Ziele, die mir zwar ständig als solche verkauft werden, es aber nach wie vor nicht sind. Zu viele, bereits geborene Kinder wachsen in schlimmen Verhältnissen auf.

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