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Endlich Leben am Altmarkt ...

Morgen (Do., 16. Juni) ist endlich einmal Leben an einer Kreuzung, die man normalerweise nur schnell hinter sich lassen will, zumindest in der jetzigen Form. Nämlich dem Kasseler Altmarkt. Und es geht natürlich zuerst einmal darum, wer wie und wie schnell voran kommt. Während sich die CDU zum Anwalt der autogerechten Stadt aufschwingt, wollen Umwelt- und Behindertenverbände endlich den ebenerdigen Zugang zum Finanzzentrum. Für die Autos geht es um angeblich zunehmende Staugefahr. Für alle, die nicht motorisiert sind und Probleme mit Treppen haben, darum, überhaupt über die Kreuzung zu kommen. Beide Seiten werden morgen Nachmittag um 17:30 Uhr am umstrittenen Ort aufeinander treffen.
Zum Ideal der autogerechten Stadt gehörten Kreuzungen, an denen der traurige Rest des Fußgängerverkehrs in Unterführungen verschwinden musste. Fahrräder, Rollstühle oder Kinderwagen waren schlicht nicht vorgesehen; Rollatoren noch nicht einmal erfunden. Diese Unterführungen haben daher auch eine gewisse Symbolik, die eine pragmatische Betrachtung nicht leichter macht: Kein anderes Verkehrsmittel sollte dem Auto im Wege sein. Fußgänger erst recht nicht. Man darf das als menschenverachtend bezeichnen.
Die zahlreichen Unterführungen in Kassel haben ihre besten Tage lange hinter sich. Die Unterwelt am Hauptbahnhof mit der Ein-Stationen-U-Bahn oder die Höhle mit der "Sockumenta" am benachbarten Scheidemannplatz sind Geschichte. Sie waren zu unattraktiv für Normalbürger und erst recht für Touristen. Sie waren meist schmutzig und beschädigt. Und am Ende war das Zuschütten billiger als das Erneuern. Der geplante Umbau am Altmarkt ist so betrachtet kein isoliertes Ereignis, sondern ein Schritt in einem seit Jahren anhaltenden Prozess. Auch anderswo endet die "Aus dem Weg!"-Logik. In Hannover verschwand die Aegi-Hochstraße, in Göttingen der Fußgängertunnel zum Bahnhof. Und immer wurde der Verkehrskollaps angedroht. Er trat nicht ein.
Es lohnt sich durchaus, sich die Unterlagen der Stadtverwaltung einmal anzuschauen (http://www.stadt-kassel.de/aktuelles/meldungen/17103/index.html): Bei den Verkehrszählungen am Altmarkt wurden immerhin 90 Radfahrer(innen) beobachtet, die die Kreuzung queren wollten, pro Stunde, wohlgemerkt. Coole Mountainbiker nehmen die Treppen hinunter ohne Absteigen; die meisten jedoch mit. Einige drängeln sich mit auf die Autofahrbahn; viele machen den Umweg über den Töpfenmarkt (übrigens ein reiner Fußgängerüberweg und damit ohne Absteigen auch illegal). Wer im Rollstuhl sitzt oder sich auf den Rollator stützen muss, taucht auf der Kreuzung und damit in der Verkehrszählung nicht auf, denn da ist kein Durchkommen. Die Behauptung, es werde "für alle schlechter", ist somit schwer nachvollziehbar. Tatsächlich verlängert sich in den Simulationen der maximale Rückstau von 313 auf 325 m. Und das nur, wenn niemand auf das Rad umsteigt.
Der Ist-Zustand ist nicht zu halten. Die vorhandene Unterführung folgt nicht nur veralteten Planungsidealen, sondern ist auch sanierungsbedürftig. Die Landesregierung hat einen ebenerdigen Zugang zu den neuen Finanzämtern gefordert; der gewiss nicht autofeindliche Verkehrsminister Dieter Posch hat der jetzt vorgelegten Lösung zugestimmt. Die hohen Mehrkosten an der Kreuzung gehen mit Sicherheit nicht auf ein paar zusätzliche Markierungen und Ampelleuchten zurück - aufgerissen und hinterher teilweise wieder neu gebaut werden muss die Kreuzung ohnehin für die Kanalisation. Ohnehin ist bemerkenswert, wie schnell die glühenden Befürworter vom Flughafen Kassel-Calden und A 44 ihre Sparsamkeit entdecken, sobald sie sich zum "Anwalt des kleinen Autofahrers" erklären können.

Ich hätte eigentlich Besseres zu tun gehabt. Aber ich werde morgen Nachmittag zum Altmarkt kommen.

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Kommentare

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Martin Reuter am :

Wer heute noch eine autogrechte Stadt fordert, hat 60 Jahre verschlafen. (Zur Erinnerung: Der verstorbene Lucius Burckhardt, der hier in Kassel lehrte, hat als Student in Basel mitgeholfen, dass die Altstadt nicht autogerecht durchpflügt werden konnte...) - Schon die publizistische Empörung über die Behinderungen durch die Bauarbeiten ist platter Populismus einer kleinen radikalen Minderheit. Man sollte sich doch freuen, wenn Politik und Verwaltung mal was richtig machen!
Ich gehe also morgen nicht hin; denn ich halte den Umbau für nicht diskutierbar, er ist selbstverständlich. Danke aber für den engagierten Artikel. Ich hoffe noch auf eine Rückmeldung darüber, was man bei so einer Besichtigung denn eigentlich macht, und welche Anti-Claqeure dort auftauchen.

Richard Kallok am :

Gefordert in dieser Sache ist ja wohl vor allem der Besitzer des Finanzkapital-Zentrums, die LHI Leasing GmbH, hinter der die jüngst vom Steuerzahler grosszügig mit 5 Mrd. Euro unterstützte Spekulantenbank LBBW steckt. LHI Leasing hat für einen barrierefreien Zugang zu dieser hochgradig von Publikum frequentierten Einrichtung zu sorgen. Die jetzige versiffte Unterführung ist übrigens nicht nur für Behinderte unpassierbar sondern auch für Nicht-Behinderte eigentlich nicht zumutbar.

MR am :

Aha, also Abwälzung von privat auf öffentlich! Pikant, pikant! Leider muss "öffentlich" aber seine Altlasten betreffs US-Postmodernisierung (Autoverkehr Autoverkehr Autoverkehr!! Auslagerung des Bürgers in den Tunnel, the tunnel vision! plus vernünftige Korrektur) abtragen. Wie soll sich der einfache Bürger da entscheiden?

Tim K. am :

Was aber auch in dem Verkehrsgutachten steht ist, dass Radwege auf dem Gehweg und nicht auf der Straße vorgesehen sind. Auch ein Verkehrskonzept von vorgestern (oder zumindest aus den frühen 90ern), weil sich bei einer solchen Radwegeführung die Radfahrer im toten Winkel der Autos befinden. Netter Nebeneffekt allerdings: In der Verkehrsberechnung können kürzere Räumzeiten angenommen werden, da ja angeblich keine langsamen Radfahrer auf der Fahrbahn fahren.

Martin Mützel am :

Die Bürgersteigradwege sind schmerzhaft. Auch nach dem Umbau ist der Altmarkt kein Paradies, aber besser als vorher. Ich hoffe allerdings, dass auch weiterhin nicht vor der Kreuzung geparkt werden darf und damit die Sicht auf die Radler vorhanden bleibt.
Wenn der Umbau nicht käme, bliebe die Kreuzung, wie sie jetzt ist. Fahrstühle oder Rampen sind illusorisch und werden derzeit nur als Scheinalternative vorgeschoben: wer nicht zugeben will, dass er ein Ziel ablehnt, kritisiert jeden Weg dorthin als den ungünstigsten. Kennt man ausreichend vom Umwelt- und Klimaschutz - oder eben von der Förderung von Behinderten.

MR am :

Ich bin etwas im Thema angefixt, weil wir in der "Freisprechanlage" einmal den - sagen wir mal salopp - Ober-Ampelschaltungs-Minister zu Gast hatten. Trotzdem fehlt mir eine allgemeinverständliche Übersetzung des Gesamtproblems: der eine meint, es würden private Verursachungen auf die Öffentlichkeit abgewälzt (s. Banken); der nächste spricht von "Räumzeiten" (was nur dem Ampelschaltungs-Spezialisten etwas bedeutet) und Verkehrsgutachten; der Dritte mahnt die "Barrierefreiheit" an bzw. findet, dass ein Kompromiss immer noch besser ist als garnix; ja was soll man denn nun damit anfangen?

Tim K. am :

Springt eine Ampel auf rot, muss eine gewisse Räumzeit eingeplant werden, bevor die Ampel der anderen Richtung auf grün springen kann. Schließlich müssen die einen Verkehrsteilnehmer die Kreuzung verlassen haben bevor andere wieder drauf können. Logischerweise können Autos eine Kreuzung aufgrund der höheren Geschwindigkeit schneller Räumen als Radfahrer.
Wenn ich das Verkehrsgutachten (zum Download auf obigem Link, Seite 16) richtig verstehe, nutzen die Verkehrsplaner den von mir beschriebenen Effekt aus: Radfahrer werden auf dem Gehweg geführt (die damit einhergehende höhere Unfallgefahr wird in Kauf genommen), folglich werden geringere Räumzeiten und längere Grünphasen für die Autofahrer eingeplant. Daran sieht man, dass es sich bei der Umbauplaung keineswegs nur um eine Planung zugunsten von Fußgängern und Radfahrern und zuungunsten der Autofahrer handelt.
Ich stimme Martin Mützel zu: die Planung ist komplex und ein Kompromiss, aber weder der Status quo noch die Vorschläge der CDU sind wirkliche Alternativen.

MR am :

dass es etwas (bezüglich Autogerechtheit etwas komplizierter ist und die Ampelschalter keineswegs interessierte Reibungslosigkeit betreiben, entnehme man wieder einmal http://kassel-zeitung.de/podcast/index.php?id=237

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