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Martin Vialon: Et in Beberbeck ego?

Beberbeck: Animation der Projektentwickler
"Denkt man im Sinne von Heinrich Heines ironischen Versepos „Deutschland. Ein Wintermärchen“ (1844) über Henners Fiktionen nach, so fühlt man sich um den vernünftigen Schlaf gebracht", schreibt Dr. Martin Vialon in der Einleitung zu dem im Folgenden dokumentierten Beitrag, den der Autor kassel-zeitung freundlicherweise zur Veröffentlichung überlassen hat. Der Autor reflektiert kritisch die von Tom Krause gewählte Architektursprache und bezieht diese in einen kulturhistorischen Kontext ein.
Martin Vialon, Dr. phil., aufgewachsen in Schöneberg am westlichen Rand des Reinhardswaldes, studierte in Göttingen und Marburg. Er lehrt Neuere deutsche Literatur, Ästhetik und Philosophie an der Yeditepe University (Istanbul). Von ihm liegen zahlreiche Publikationen zur deutschen und europäischen Geistes- und Kulturgeschichte vor.
Nach dem Plan der Kommune Hofgeismar soll im Stadtteil Beberbeck das europaweit größte Ferien- und Freizeitresort mit einer Kapazität von 7000 Betten, mehreren Golfplätzen und Wellness- und Reitanlagen entstehen. Damit wäre der größte Natureingriff in die Topographie seit Bestehen des Landes Hessen verbunden. Unter Vorsitz des CDU-Bürgermeisters Heinrich Sattler schloss die „Besitzgesellschaft Domäne Beberbeck“ mit dem Land Hessen im vergangenen Jahr einen Kaufvertrag ab und betreibt die Vermarktung der 800 Hektar großen Fläche. Ein Investor wurde noch nicht für das 420 Millionen Euro-Projekt gefunden. Der kürzlich aus-gestrahlte Film „Henners Traum“, erstellt vom Grimme-Preisträger Klaus Stern, zeigt phasenweise einen naiv-dilettantisch agierenden Bürgermeister, dem der Begriff für die Realität abhanden gekommen ist. Denkt man im Sinne von Heinrich Heines ironischen Versepos „Deutschland. Ein Wintermärchen“ (1844) über Henners Fiktionen nach, so fühlt man sich um den vernünftigen Schlaf gebracht.

Subtil-ironische Kritik ist als ästhetisches Stilmittel Sterns Sache; direkt und offen wird Kritik von Oberforstamtsrat a. D. Hermann-Josef Rapp aus der Perspektive des Naturschutzes formuliert. Als Sprecher vom „Aktionsbündnis Beberbeck“ warnt er eindringlich davor, dass geschützte Tierarten wie Schwarzstorch, Wildkatze und Luchs bedroht wären, weil sie bei Ruhestörung durch Massentourismus ihre Einstände verlieren. Der Naturraum Beberbeck grenzt an den „Urwald Sababurg“, wo mehrhundertjährige Eichen und seltene Farne gedeihen. Rapp wies in verschiedenen Publikationen nach, dass zudem das Holzapetal als Bestandteil Beberbecks die Bezeichnung „Kronjuwel“ verdient. Der Bachlauf schuf eine artenreiche Biozönose, worin Feuersalamander, Eisvogel, Bekassinen, Waldschnepfen, Schleiereulen, Rotmilane, Wespenbussarde sowie seltene Blaupfeil- und Prachtlibellen angesiedelt sind. Der Schwarzstorch ist, neuerdings neben dem Wolf, der stolzeste Bewohner des Reinhardswaldes und geht hier auf Beutesuche. Gegen die Argumente des Naturschutzes, die als störend von der „Besitzgesellschaft“ empfunden werden, steht deren hypothetische Auffassung, dass etwa 2000 neue Arbeitsplätze in der strukturschwachen Region entstehen könnten.

Im Kontext der Beberbeck-Diskussion wurde bisher kaum auf die antihistorisch ausgerichtete Architektur des Tom Krause eingegangen. Bei genauer Betrachtung wird deutlich, dass Krause die klassizistische Tradition des Kasseler Hofbaumeisters Johann Conrad Bromeis (1788-1835) missachtet und somit zur ästhetischen Herabwürdigung des gesamten Beberbecker Ensembles beiträgt. Um diese These zu erhärten, ist eine kulturhistorische Begründung notwendig, die sich auf das Zeitalter der deutschen Klassik und ihre antikisierenden Renaissancevorbilder bezieht.
Johann Wolfgang von Goethe bereiste zwischen 1786 und 1788 Italien und Sizilien. Er leitete die Veröffentlichung des ersten Teils seiner „Italieni-schen Reise“ im Jahr 1817 durch das autobiographische Motto „Auch ich in Arkadien!“ ein. Zwei Wortbedeutungen verknüpfen sich mit dem lateinischen Begriff „Et in Arcadia ego“, der erstmals durch das gleichnamige Gemälde (1618/22, Gallaria Nazionale d’Arte, Rom) des italienischen Barock-malers Giovanni Francesco Barbieri (Il Guercino, 1591-1666) in die Kunstgeschichte eingeführt wurde. Die wörtliche Bedeutung ergibt sich durch Goethes Übersetzung „auch ich [war] in Arkadien“; der zweite Sinngehalt wurde durch den Kunsthistoriker Erwin Panofsky anhand der Interpretation von Nicolas Poussins Gemälde „Et in Arcadia ego“ (1637/38, Louvre, Paris) erschlossen, sodass sich die erweiterte Bedeutung „auch in Arkadien herrscht der Tod“ ergibt. Italien, das Land, in dem die Zitronen blühen, galt einerseits als pastorale Sehnsuchtsland-schaft und Projektionsfläche heiler Seelenzustände und andererseits als Stätte, die nicht frei war von der Vergänglichkeit und Unwiederholbarkeit des Lebens. Seit der Goethe-Epoche gelten beide Bedeutungen als klassische Topoi, die zudem über literarisch vermittelte Italienbilder eines Wilhelm Heinse, Karl Philipp Moritz, Johann Gottfried Seume, Heine, Hugo von Hofmannsthal, Rudolf Borchardt und Ste-fan George bis ins 20. Jahrhundert reichen. Auch Maler wie Johann Heinrich Wilhelm Tischbein, Jacob Philipp Hackert, Joseph Anton Koch und Hans von Marées, oder Architekten wie Friedrich Wilhelm von Erdmannsdorff, Friedrich Schinkel und Erich Mendelsohn, hatten arkadische Motive in ihren Werken zeitbezogen verarbeitet.
Aber das tatsächliche Arkadien ist ursprünglich nicht mit Italien und der Campagna di Roma identisch, sondern es war ein karger Landstrich auf der Peleponnes. Dürre Böden, auf denen magere Kräuter wuchsen, dienten weidenden Ziegen und Schafen als Nahrung, und die Arbeit der Hirten, bildhaft von den klassischen Malern thematisiert, zeichnet sich zugleich als Hege und Muße aus. Symbolisch ist diese doppelte Bedeutung des arkadischen Sinnhorizontes durch das bukolische Flötenspiel der Hirten angedeutet.
Es war auch der römische Dichter Vergil (70 v. Chr.-19 v. Chr.), der den arkadischen Gegensatz zwischen Idealvorstellung und „memento mori“ aufgriff und ihn nach Italien verpflanzte: „O fortunatos nimium, sua si bona norint, agricolas!“ (Überglücklich die Bauern, wenn sie ihrer eigensten Güter innewürden!“). Das in Hexametern verfasste Lehrbuch „Georgica“ (Landleben, 37-29 v. Chr.), aus dem dieses Zitat (Buch 2, Vers 458) stammt, war das erste literarische Dokument, das praktische Anleitungen zum Ackerbau und zur Pferde-, Rinder- und Bienenzucht gab. Während des Bürgerkriegs hatte Vergil den Mythos von der goldenen Zeit einer idyllischen Utopie irdischen Friedens beschworen, die unter der römischen Herrschaft des Augustus (63 v. Ch.-14. v. Chr.) das Bauerntum zur Kultivierung der Natur inspirieren sollte. Das lateinische Wort „cultus“, das der Dichter häufig verwendet, bedeutet soviel wie Bearbeitung, Anbau und Pflege und leitet sich vom Verb „colere“ (bebauen, bestellen, bearbeiten und Ackerbau betreiben) ab. Der Ackerbau ist die erste große zivilisatorische Kulturleistung des Menschen, worauf alle Formen der Arbeitsteilung aufbauen. So auch die Kunst und Kultur als Produktionsleistung, die vom Menschen als zweite Natur geschaffen wurde – als eine Form der Natur, die der göttlichen Schöpfung gegenübersteht.

Wie ist dieser kulturhistorische Kontext auf Beberb-eck zu beziehen? Johann Conrad Bromeis erbaute Beberbeck als kurfürstlichen Landsitz von Wilhelm II. von Hessen-Kassel zwischen 1827 und 1831, wenige Jahre nach dem Erscheinen von Goethes „Italienischer Reise“, deren zweiter Teil 1829 vorlag. Bromeis’ klassizistische Architektur mit dem Schloss als zentraler Anlage gehört zu den wenigen Bauwerken, die heute weitgehend unverändert überliefert sind. Er wurde im Geist des Klassizismus erzogen. Beide Arkadientopoi waren ihm durch die zeitaktuelle Rezeption und seine Bautätigkeit im Schlosspark von Wilhelmshöhe bekannt. Das Beberbecker Ensemble wurde von Bromeis als klassisch-arkadische Ideallandschaft entworfen, welche sich als Zusammenspiel von Ackerbau und Pferdezucht und einer an römisch-italienischen Vorbildern orientierten Ästhetik auszeichnet.
Dagegen steht die schablonenhafte Architektur des Tom Krause, die eine unwiederbringliche Landschaftszerschneidung bewirkt. Diese Methode führt dazu, dass die geometrische Axialität und Symmetrie Bromeis’ vollständig überlagert und zerstört wird. Krause vermeidet den Bezug zur abendländischen Traditionslinie, die seit Vergils „Landleben“ und den klassizistischen Architekturtheorien des römischen Ingenieurs Marcus Vitruvius Pollio und des Renaissancearchitekten Andrea Palladio weiterwirkte (beide Architekten hatten wiederum Goethes klassische Baukunstauffassung beeinflusst). Im Kontrast zu Krause hatte diese Tradition als gestalterisches Mittel Bromeis’ Architekturplanung beeinflusst, denn er hatte sichtbar die korinthisch gegliederte Pilasterordnung als Stilelement bei der Gestaltung der Schlossfassade zum Ausdruck gebracht. Das vorliegende Architekturmodell spielt jedoch mit willkürlich positionierten Bauelementen wie mittelalterlichen Zinnen auf Hoteldächern und künstlich angelegten Seen, die keine Beziehung zur überlieferten Formsprache der Architektur und entstandenen Kulturlandschaft aufweisen.

Wie ist Krauses Ignoranz gegenüber der ursprünglich klassizistischen Konzeption Beberbecks abschließend zu verstehen? Krauses Entwurf lässt nicht erkennen, dass er der von Baumeister Bromeis im nordischen Beberbeck anwesend gemachten Arkadienillusion des Südens folgen würde. Vielmehr entpuppt sich seine Architektur – in den Worten von Heines „Wintermärchen“ – als „gotischer Wahn und moderner Lug“. Kurzum: „Henners Traum“ trifft mit Krauses gotischen Versatzstücken zusammen und bildet eine Modernitätsfassade, hinter der sich eine heimisch-reaktionäre Ideologie verbirgt. Die Funktion dieser Provinzideologie besteht darin, dass ein Verblendungszusammenhang hergestellt wird, bei dem die ästhetischen Mittel der Kitscharchitektur das Produkt einer überdimensionierten und nicht nachhaltigen Freizeit- und Kommerzanlage legitimieren sollen. Diese Verblendung setzt sich auch bei der öffentlichen Diskussion fort, denn im Vordergrund steht die Ästhetisierung der Politik durch eine technokratische Begriffssprache und nicht die notwendige Politisierung von Krauses Ästhetik; letztere könnte erst durch eine kultur-, kunst- und geistes-wissenschaftliche Auseinandersetzung erreicht werden.
Zwei Wege zeichnen sich ab. Will man die unterlassene Traditionspflege in Beberbeck fortsetzen, ist aufgrund der dargelegten kulturhistorischen Erwägungen, mit denen sich der Architekt hätte intensiv auseinandersetzen müssen, das Projekt abzulehnen. Will man jedoch den Traditionsabbruch riskieren, muss man sich dessen bewusst sein, was man verliert. Demgegenüber zeichnet sich das arkadisch-illusionäre Moment in Beberbeck durch einen Realismus aus, der darin besteht, dass die Staatsdomäne bei weltweit zunehmender Nahrungsmittelverknappung schwarze Zahlen bei der Produktion landwirtschaftlicher Güter schreibt.

Heute kann man Goethes Motto der „Italienischen Reise“ leicht abwandeln und noch sagen: Et in Beberbeck ego. Aber vielleicht gilt dieses arkadische Glücksmoment nicht mehr für die Zukunft. Zu hoffen bleibt, dass sich neue Kräfte der Vernunft durchsetzen mögen, um dem sanften Tourismus in Beberbeck eine faire Chance einzuräumen. Dies müsste zunächst durch einen alternativen Entwurf geschehen, der sich tatsächlich auf die vorhandene Bausubstanz bezieht und das neue Projekt in Einklang mit den Erfordernissen des Naturschutzes stellt. An neuen Ideen und Vorschlägen dürfte kein Mangel herrschen. Im erweiterten Kontext geht es letztendlich um die Rettung des Reinhardswaldes als Naturraum, dem man sich nicht unüberlegt bemächtigen sollte.

Der Autor
Martin Vialon, Dr. phil., aufgewachsen in Schöneberg am westlichen Rand des Reinhardswaldes, studierte in Göttingen und Marburg. Er lehrt Neuere deutsche Literatur, Ästhetik und Philosophie an der Yeditepe University (Istanbul). Von ihm liegen zahlreiche Publikationen zur deutschen und europäischen Geistes- und Kulturgeschichte vor.

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Kommentare

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Wolfgang Ehle am :

Ein wichtiger Beitrag. Ich fürchte nur, dass ihn einige Leute nicht verstehen... vor allem die, die hier die Entscheidungen treffen.

Sebastian von Roos am :

ich weiß auch schon einen neuen Namen für das Areal:

Dubaibeck

:-))



Der alte Name ist zu lahm. :-)

Ein künstliches Meer fände ich auch gut ... da kann der Wolf dann drin baden :-))

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