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Märchenhafte Buchstaben und Walderfahrungen

Im "FinsterWald" treffen Naturaufnahmen und Buchstaben aufeinander. (Foto: Nils Klinger)
Nur eine Wand aus schwarzem Stoff trennt mich von der Ausstellung „FinsterWald“. Ich atme tief durch, dann schiebe ich den schweren Stoff beiseite und betrete die Dunkelheit ...

Auf der anderen Seite erwartet mich ein großer, abgedunkelter Raum. Mein Blick wird beschränkt durch große Stelen, die im gesamten Raum verteilt zu stehen scheinen. Auf ihnen und den Außenwänden laufen Projektionen, die ich mir nun genauer anschaue: Sie zeigen weiße Buchstaben auf schwarzem Grund, die sich in einem kontinuierlichen Fluss befinden. Aus ihnen formen sich verschiedenste Bilder, darunter märchentypische Motive wie Bäume oder Brunnen.
Die Atmosphäre ist friedlich – ich höre Vögel zwitschern, Uhus rufen und Wasser plätschern. Während ich weiter in den 'Wald' vordringe, entdecke ich einen Wasserfall, aus dem Buchstaben herausfließen und in einem Fluss auf dem Boden münden. Ich stelle mich in ihn hinein und lasse mich von seiner Strömung mitreißen, warte ab, wohin mich die Buchstaben führen. Dabei werde ich selbst zum Teil des Flusses, denn die Projektion läuft über meinen Körper hinüber. Ich betrachte die Buchstaben, die über mich hinwegrauschen und bewege mich mit ihnen durch den Fluss hindurch und vergesse alles um mich herum, während ich selbst Teil des Buchstabengewässers bin.

Während eines Sturms wirbeln die Buchstaben im "FinsterWald" umher. (Foto: Nils Klinger)


Auf einmal höre ich Äste knacken und Blätter rascheln. Von irgendwoher ertönt Wolfsgeheul und ich mache mich auf die Suche nach dem Ursprung dieser Geräusche; laufe also durch den ganzen Raum, kann aber nichts entdecken. Das Knurren des Wolfs scheint nun ganz nah zu sein und mir wird etwas mulmig zumute: Versteckt er sich irgendwo? Steht er gar direkt hinter mir und ich sehe ihn nicht?Immer wieder erklingen Geräusche wie Tiergeheul oder seltsames Gurgeln, aber ich kann nie genau ausmachen, woher sie stammen.
Auch die Irrlichter, die ständig umherschwirren, sind meiner Suche nicht gerade behilflich, locken sie mich doch durch den gesamten Raum hindurch, sodass ich die Geräusche vergesse und mich weiter umschaue. Auf meiner Entdeckungsreise durch den 'Wald' bleibe ich lange vor einer aus Buchstaben geformten Schlange stehen, die sich unermüdlich um sich selbst herum schlängelt und dabei dem beweglichen Wurzelwerk eines gigantischen Baumes gleicht.
Meine Versunkenheit wird jäh unterbrochen, als ich höre, dass ein Sturm aufzieht. Der Boden und ich selbst vibrieren, die Buchstaben wirbeln auf den Wänden umher und ich habe das Gefühl, vom Wind mitgerissen zu werden. Kurz darauf flaut der Sturm zum Glück wieder ab und ich wage es, mich erneut in Bewegung zu setzen und den Rest der Ausstellung zu betrachten. Da sich auch die Buchstaben in ständiger Bewegung befinden, ist es ein Leichtes, mich mit ihnen gemeinsam fortzubewegen und zu schauen, wohin sie mich führen.

(Foto: Nils Klinger)


Doch dann werden die Projektionen schwarz. Ich muss mich kurz neu orientieren, finde aber schnell zur 'Lichtung' in der Mitte des Raumes, die von fünf Stelen gesäumt wird, auf denen nun Videos laufen. Ich stelle mich in die Mitte dieser 'Lichtung' und lasse mich auf die Bilder ein, die mich nun von allen Seiten umgeben.
Zuerst scheine ich mich in einem grünen, sommerlich anmutenden Wald zu befinden. Obwohl ich auf der Stelle stehe, habe ich durch das Video das Gefühl, durch das Innere dieses Waldes zu gehen. Ich höre Äste knacken und denke sofort, ich selbst müsse diejenige gewesen sein, die sie zertreten hat. Gleichzeitig höre ich einen lauen Wind durch die Blätter streichen und beruhigendes Vogelgezwitscher im Hintergrund.
Schnell ist es aber mit dem Frieden vorbei, denn auf einmal wird es dunkel im Wald. Unheilvolle, undefinierbare Geräusche dröhnen in meinen Ohren und alles vibriert. Ich höre etwas – vielleicht ein Wesen, das hier herumschleicht –, aber kann nichts entdecken.

(Foto: Nils Klinger)


Auf einmal blitzt es und die Szenerie wechselt auf das dunkel-bedrohliche, offene Meer. Die Wellen scheinen mich einzukreisen und ich fühle mich von ihnen bedrängt. Nach einiger Zeit weichen die Wassermassen dem lodernd-roten Feuer, das um mich herum bedrohlich knistert und mich einengt. Die Hitze scheint beinahe körperlich spürbar zu sein – so muss sich die Hexe aus „Hänsel und Gretel“ gefühlt haben.
Als ich denke, dass es nicht unangenehmer werden kann, beruhigt sich die Szenerie wieder. Das Feuer wird zu flüssigem Gold, das über die Wände zu fließen scheint, und das Knistern weicht einer beinahe beschwingten Musik. Schließlich befinde ich mich wieder im friedlichen Wald und werde vom Video hinaus ins Licht geführt.
Als ich wieder in der Wirklichkeit angekommen bin, frage ich mich, wie andere den „FinsterWald“ wohl erlebt haben …



„FinsterWald“ ist eine multimediale Rauminstallation, in die die Besucher eintauchen können. Sie erzählt non-linear, das heißt, Einsteigen ist zu jeder Zeit möglich. Dieser begeh- und erlebbare Rundgang ist die erste ausschließlich digitale Ausstellung in der Grimmwelt. Die Installation läuft in einer Schleife, die insgesamt 20 Minuten dauert. Will man jede Szene sehen, muss man sich drei Stunden Zeit nehmen, da zeitgleich mehrere Videos abgespielt werden. Den Hintergrund der Ausstellung bilden Motive aus den Grimmschen Märchen, die aber nicht in Form einer zusammenhängenden Narration präsentiert werden. Dadurch regt die Ausstellung zu einer höchst subjektiven Rezeption an. Weil sie darüber hinaus ohne Sprache und Vorwissen auskommt, ist sie für jeden verständlich und lässt allen Besuchern Raum für ihre eigenen, intuitiven Erfahrungen.

Die Ausstellung „FinsterWald“ läuft noch bis zum 6. Oktober 2019 in der Grimmwelt.
www.grimmwelt.de

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Kommentare

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klaus baum am :

danke für diesen schönen bericht.

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