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Neulich im Dorf nicht weit von Kassel

Mehrere Frauen, zwei Männer, drei Jungs, ein Kaffee und das Wirtschaftsmagazin

Im Dorfladen sind die Verkaufsflächen abgeteilt: die Bäckerei gegenüber dem Eingang mit zwei Tischen samt vier Stühlen, nebenan die Güter des täglichen Lebens mit einer Extrakasse. Eine Frau steht hinter dem Bäckereidresen, eine andere sitzt vor einer Tasse Kaffee: „Darf ich mich zu Ihnen setzen?“
Mit freundlicher Geste wird ein Stuhl angeboten. Die Verkäuferin und die Kaffeetrinkern unterhalten sich über das neue Tupperwarenangebot. „Nein, ich will nichts. Ich habe gerade die Kaffekanne wieder aus dem Mülleimer rausgeholt. Beim Treffen haben die mir gesagt, ob ich spinne, ich könnte mir doch einen Einsatz kaufen. Da habe ich den Mülleimer wieder ausgeräumt, war zu unterst drin natürlich, hab die Kanne gewaschen. Und jetzt habe ich wieder eine Kaffeekanne.“ Sie lacht. Später klärt sich, dass ihre Männer die Thermoskanne geschreddert haben und steif und fest behaupten, sie hätten gar nichts gemacht. Es kommen Kundinnen, alle duzen sich. Eine kauft zwei Packungen Eis und ein halbes Brot, in kurzen Hosen und T-Shirt. Auf ihre sommerliche Kleidung angesprochen meint sie: „Ich frier sonst immer, aber seit gestern schwitz ich wie blöd.“ Sie bekommt eine Flyer ausgehändigt. „Da kann man schon was brauchen“, meint sie. Die Kaffeetrinkerin lacht schon wieder: „ Ich habe mich entschieden, nichts zu kaufen, Du hast doch die Schränke auch übervoll, oder? Also ich habe meinem Sohn gesagt, er kann sich die grüne Salatschüssel mitnehmen. Jetzt wo wir alleine sind, brauchen wir doch keine große Salatschüssel. Und ob Du es glaubst oder nicht, seitdem fehlt mir dauernd eine große grüne Salatschüssel. Die hab ich mir jetzt nachbestellt.“ Mir erzählt sie, dass der Laden 15 Jahre lang von einem Kaufmann betrieben worden sei, immer mit derselben Pacht. "Dann hat die Gemeinde nach 15 Jahren die Pacht erhöht. Der ist damals in die Wohnung nebenan eingezogen, die war im Rohbau, die hat er schön für seine Tocher ausgebaut. Aber nach 15 Jahre ist das doch auch einmal abgewohnt, was er da investiert hat." „Der Laden gehört der Gemeinde?“ Ja und der Kaufmann hätte dann lauter Zettel in die Ladenfenster geklebt, dass die Gemeinde schuld sei, dass er jetzt schließen müsse, weil sie die Pacht erhöht habe. „Im Endeffekt hat am Schluss dann keiner mehr bei ihm eingekauft. Seit Januar sind die Frauen im Laden“. „Wie, niemand hat zu ihm gehalten?“ „Nö, der hat in den 15 Jahren wirklich gut verdient. Und nach 15 Jahren kann man doch mal die Pacht erhöhen. Wann denn sonst?“ Drei Jungs holen sich Eis aus der Kühltruhe. Nacheinander betreten zwei Männer den Laden, mit Plastikkörben in den Händen. „Schneidest Du mir das Brot auf?“ fragt eine neu Dazugekommene. Sie wartet. Die Frauen unterhalten sich darüber, dass es morgen wieder regnet. Die Kaffeetrinkerin erzählt. "Gestern bin ich mit Jacke und Pullover rausgegangen und hab gedacht, Du spinnst. Heute bin ich mit T-Shirt zur Arbeit und habe auch gedacht, Du spinnst.“ „Du solltest vielleicht ab und zu den Wetterbericht anschauen?“ „Ach, der stimmt doch eh nie“. In den Regalen liegen Backzutaten, Tütensuppen, Gewürze, Kosmetik, Zahnpasta, Waschmittel, Klopapier, Küchenrollen. In zwei langen Tiefkühltruhen Gemüse und Fertiggerichte. Allles ist übersichtlich angeordnet und zusätzlich ausgeschildert. Obst- und Gemüsedosen stehen an der Wand aufgereiht. Hinter der Kasse eine langes Regal mit Zeitschriften für Frauen, fürs Fernsehen, für Männer und zwischendrin ganz oben leuchtet pink ein Exemplar des einzigen Wirtschaftsmagazins, das ich hin und wieder lese. „Was, Sie haben brand eins. Liest das jemand hier?“ Die Kassiererin nickt stolz: „Das ist eine richtig gute Zeitung. Ja, die wird gekauft. Ich habe auch schon paar Mal rein geschaut. Die ist richtig gut.“ Ich kaufe Teekerzen für Bernd, ein Creme, die ungefährlich aussieht und das einzige Exemplar des pinken Wirtschaftsmagazins.

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Kommentare

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MR am :

Der einmalige Mikrosozialismus von Frau Salm. Einziger Einwand möchte die schamlose Belauschung der gewöhnlichen Bevölkerung sein. Allerdings gehörte das prominent in diese Zeitung, die derselben gewidmet ist - wenn ich das richtig verstanden habe. Auch ist die Gesamtbevölkerung um eine Hälfte verkürzt bzw. phantomisiert. Man errät, welche?

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