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Eine Geschichte des Erzählens


Die neue Sonderpräsentation „HörenSAGEN“ in der Grimmwelt behandelt das Erzählen als Grundkonstante menschlichen Verhaltens. Anlässlich des 200 jährigen Jubiläums der Sagensammlung „Deutsche Sagen“ der Gebrüder Grimm, spannt das Museum einen Bogen von antiken Mythen bis hin zu Fake News und Urban Legends der heutigen Zeit.

von Johanna Groß

Fast jedes Kind wächst mit ihnen auf; die Märchensammlung der Gebrüder Grimm ist weltbekannt. Ob Rotkäppchen, Hänsel und Gretel oder Dornröschen, seit über 200 Jahren werden die von Wilhelm und Jacob Grimm zusammengetragenen Geschichten erzählt. Nun lenkt die Grimmwelt den Blick der Besucher auf das zweite große Sammelwerk der Brüder: Die beiden Bände „Deutsche Sagen“ erschienen 1816 und 1818 und sind Dreh- und Angelpunkt der aktuellen Sonderpräsentation „HörenSAGEN“.
Dabei hinterfragt die von Susanne Völker kuratierte Ausstellung, wie sich das Narrative in den unterschiedlichen Zeitepochen und an unterschiedlichen Orten verändert.
Im Gegensatz zu den populären Märchen haben Sagen einen wahren Kern. Durch die mündliche Überlieferung entfremden sich die kurzen Erzählungen vom Ursprung und tauchen immer tiefer in die Welt des Magischen, Übernatürlichen, Unerklärlichen und Mystischen. „Märchen wollen unterhalten, Sagen sind oft eine Art des Berichts. Sie sind Kontext- und Zeitbezogen und werden von jeder neuen Generation der Geschichtenerzähler neu interpretiert“, erklärt Dr. Sabine Schimma von der Grimmwelt, „ Die Sagensammlung der Brüder Grimm ist im Sinne der Romantik: Systematisch wurden die Geschichten aus mündlichen wie auch schriftlichen Quellen gesammelt um nach dem Ende der napoleonischen Kriege das deutsche Nationalbewusstsein zu prägen“.



Der Wandel der Sagenmotive

Eine Sagengestalt dürfte indes bereits aus der Märchensammlung bekannt sein: Frau Holle nimmt in der Ausstellung durch einen fragilen Scherenschnitt der Künstlerin Katrin Binder einen besonderen Platz ein. Die über 5000 Jahre alte Sage der Göttin, die angeblich auf dem Hohen Meißner lebt, inspirierte Binder. „Das besondere an der Sage von Frau Holle ist das Nebeneinander von unserer und der Anderswelt der Göttin. Sie zieht Frauen hinab in ihren Teich und beschenkt sie mit Gaben, als Dank für ihre harte Arbeit. Der Betrachter meines Scherenschnitts muss ganz aktiv um ihn herumlaufen um in die Anderswelt zu gelangen“, erklärt die Künstlerin. Der Wandel der Figur ist ein zentrales Element der Präsentation.
Ein weiteres berühmtes Beispiel der Sagenwelt ist der Erlkönig.
Die dänische Volkssage über die Tochter des Elfenkönigs inspirierte Johann Gottfried von Herder zu dem Gedicht „Erlkönigs Tochter“, welches wiederum Johann Wolfgang von Goethe nur wenige Jahre später zu der weithin bekanntesten Version der Sage, dem Gedicht „Der Erlkönig“, anregte. „Der Erlkönig ist ein Paradebeispiel des Sturm und Drang. Spannend ist, wie sich das Motiv der Sage wandelt, wie es sich von der Volkssage über Herder bis hin zu Goethe entwickelt und etwas neues entsteht“, erklärt Susanne Völker, „In allen Kulturen widmen sich Mythen und Sagen den großen Themen der Menschheit: Schöpfung, Liebe und Tod sowie Entstehung von Gut und Böse. Viele dieser Mythen haben dauerhaft Spuren in unserer Kulturgeschichte hinterlassen“.


Social Media als Grundlage neuer Sagenbildungen
So hat die Geschichte des schönen Narziss, Sohn eines Flussgotts, in unserer von Social Media geprägten Gegenwart noch immer eine hohe Brisanz. „HörenSAGEN darf nicht bei einem historischen Blick stehen bleiben“, erklärt Völker. Nicht erst die aktuelle Generation von Smartphones beweist, dass Maschinen inzwischen enorm viel können. „Wir werden den Maschinen gewissermaßen zum Fraß vorgeworfen“, sagt Frédéric Eyl vom „Studio TheGreenEyl“. Ganz nach diesem Motto können mutige Besucher der Ausstellung wagen, sich vor die Installation von „TheGreenEyl“ zu stellen. Sie werden von der Maschine fotografiert von einem programmierten Algorithmus analysiert. Die Etappen der Analyse können anschließend auf den Bildschirmen verfolgt werden. Zum Schluss verbindet der Computer das Gesehene mit der Sagenwelt der Grimms. Oberhalb der Bildschirme präsentiert ein Tickerband das Ergebnis, einen textlichen Ausschnitt der grimmschen Erzählungen, individuell angepasst an den Betrachter, dessen Mimik und Körperhaltung die Geschichte verändern kann. „Wir stellen die Mechanismen des Interpretierens mit unserer Installation dar. Es ist unglaublich spannend zu sehen wie sich das Hören / Sagen in unserer Zeit zu einem Sehen / Sagen entwickelt. Was passiert genau, wenn ich ein Bild von mir in die sozialen Medien hochlade? Was denkt die Maschine über mich? Das spannende ist doch, dass dadurch das meine Welt in Zahlen zerlegt wird, interpretiert wird, eine Analogie zu den Sagen entsteht“, erläutert Eyl.


Erzählen ist ein menschliches Bedürfnis
„HörenSAGEN“ beschäftigt sich mit der Relevanz von Sagen in unserer wissenschaftlich und technisch erschlossenen Welt. Noch immer faszinieren uns Sagenbildungen. Die rasante Verbreitung von Geschichten im Zeitalter der digitalen und sozialen Netzwerke vereinfacht die alltägliche Erzählform, gleichzeitig stellen sie uns vor neue Herausforderungen bei der Bewertung des Wahrheitsgehalts – nicht alle Erzähler in diesem System sind menschlich. Auf humorvolle und spannende Weise erörtert dies die Sonderpräsentation der Grimmwelt für Erwachsene wie auch für Kinder. Neben Rundgängen bieten die Veranstalter auch ein Adventsprogramm an, in dem neben eigenen Scherenschnitten auch einer musikalischen Interpretation der Figur der Frau Holle gelauscht werden kann. „Sagen sind eine Schnittstelle der unterschiedlichen Welten“, sagt Susanne Völker, „ Heute verbinden sie die reale mit der digitalen Welt. Es ist spannend, wenn man erkennt, dass das Erzählen eine Grundkonstante des menschlichen Seins ist“.

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