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Tempolimit ja oder nein? Fest steht: Der Irrsinn auf den Autobahnen der Republik kostet unnötig viele Menschenleben!

Wer sich mit der Anzahl der Verkehrstoten im Straßenverkehr beschäftigt, auch nur im Vorbeiflug, versinkt in einem statistischen Nebel. Es gibt dennoch viele interessante, abgesicherte Daten dazu: Und diese Daten und Fakten haben eine Menge zu tun mit den aktuellen Diskussionen um eine Verkehrswende und um die vom Verkehr ausgehenden Umweltbelastungen.

So starben z.B. im Jahr 2011 weltweit ungefähr 1,24 Millionen Menschen an den Folgen eines Verkehrsunfalls. Das sind 3.400 Menschen täglich. Damit sind Verkehrsunfälle die neunthäufigste Todesursache weltweit. Die Zahl der Verkehrstoten liegt weit über den Opferzahlen von Krieg, Genozid oder Terrorismus. Um die 22 Prozent der Verkehrstoten waren Fußgänger, weit über die Hälfte “weiche” Verkehrsteilnehmer wie Fußgänger, Radfahrer und Motorradfahrer. Zwar konnten seit 2007 88 Länder die Zahl der Verkehrstoten spürbar reduzieren, in 87 Länder stieg sie jedoch weiter an. Die Zahl der Verkehrstoten sinkt in entwickelten Ländern, während Länder mit mittleren und niedrigen Einkommen weiterhin steigende Zahlen an Verkehrstoten zu verzeichnen haben. Und dazu kommen noch unglaublich viele Verletzte: Ihre Anzahl wird auf jährlich etwa 40 Millionen geschätzt… Ein wahres Blutbad!

Auch für Deutschland gibt es genug Statistiken zum Thema. Selbst wenn es innerhalb dieser Zahlenkolonnen einiges an Widersprüchen gibt, so ist das Meiste gesichert und unstrittig: Auf allen deutschen Straßen sind seit 1950 780.000 Menschen gestorben! Das entspricht in etwa der Einwohnerzahl von Frankfurt (SZ, 16.11.2018).
In den letzten 26 Jahren, zwischen 1992 und 2017, sind bei Verkehrsunfällen allein auf deutschen Autobahnen ca. 18.267 Menschen - Männer, Frauen, Kinder, Alte – gestorben. Schwerverletzte im selben Zeitraum gab es dort ungefähr 181.539. Die Zahl der leicht bis mittelschwer Verletzten liegt ungefähr 3 bis 4 Mal so hoch. Interessant ist jetzt, aus aktuellem Anlass, die Zahl der Toten auf deutschen Autobahnen, die aufgrund überhöhter Geschwindigkeit ihr Leben lassen müssen. D.h. aufgrund staatlich erlaubter Raserei! Was fast überall verboten ist, darf bei uns weiter praktiziert werden: das Rasen! Verschiedene Statistiken geben hierzu teils abweichende Prozentzahlen an. Geht man von den niedrigeren Zahlen aus, kommt man auf ungefähr 2.375 getötete Verkehrsteilnehmer im besagten Zeitraum, also in den besagten letzten 26 Jahren. Das sind, von all den vielen Verstümmelten und Verletzten abgesehen, nur diejenigen, die auf dem Altar einer falschen Verkehrspolitik, einem falschen Verständnis von Mobilität ausschließlich auf den Autobahnen geopfert worden sind.

Die Zahl der Toten ist in den letzten Jahren allerdings beachtlich gesunken. Hauptursache dafür ist die verbesserte, in den Autos direkt verbaute Schutztechnik wie Airbags etc.. Das darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese 2.375 Toten zu viele sind.

Trotz der eindeutigen Faktenlage ist es jedoch nicht so, dass für das beschriebene Szenario allein die Autokonzerne und ihre lobbyorientierten PolitikerInnen verantwortlich sind. Vielmehr muss angemerkt werden, dass zum Druck der Konzerne und dem politischen Großversagen der regierenden Parteien noch kritikwürdige Einstellungen bei Autofahrern hinzukommen. Die sogenannte freie Fahrt für freie Bürger, angesichts der vielen negativen Folgewirkungen eines ausufernden Individualverkehrs, war immer schon ein großes Missverständnis. Dennoch hat sich dieser Leitspruch tief in die bundesdeutschen Gehirne eingegraben. Leider bis heute. All das zusammen führt zu einem nicht mehr entschuldbaren, unverständlichen Fehlverhalten, das in Verkehrsminister Scheuer seinen perfekten Ausdruck findet… Scheuer, wieder einmal drängt sich das Adjektiv beSCHEUERt auf, ist, wenn man ihn sprechen hört, der größte anzunehmende Verkehrs-Unfall im aktuellen Kabinett. Leider ist das ganze Kabinett auf diesem Politiksektor kein Glanzlicht. Scheuer jedenfalls sollte besser auf die bundesdeutsche Polizei hören, konkret auf Herrn Mertens, den Vizebundeschef der Gewerkschaft der Polizei, der ihn unmissverständlich darauf hinweist, dass ein Tempolimit auf Autobahnen sehr wohl mehr Sicherheit bringt und damit auch weniger Tote. Er lässt es gegenüber dem Unbelehrbaren an Deutlichkeit nicht fehlen: Während Scheuer die Forderung nach einem Tempolimit als „gegen jeden Menschenverstand“ gerichtet empfindet, hält ihm Mertens entgegen, dass so ein Limit Menschenleben rettete, weniger Schwerverletzte bedeutete und Staus verhinderte. Scheuer, ganz offensichtlich von der Kenntnis aller Fakten unbeleckt, läuft weiter Amok, indem er regulatorische Eingriffe in die weiterhin erlaubte Raserei als „Wahnsinn“ bezeichnet. Dass andere europäische Länder, wie z.B. Italien und Frankreich - auch sie verfügen mit Fiat, Renault, Peugeot u.a. über eine mächtige und leistungsfähige Autoindustrie - seit vielen Jahren gut mit ihren Tempolimits fahren, weiß jeder. Nur eben Scheuer nicht.

Mit einem Ende der Raserei auf den Autobahnen könnten, außer Menschenleben zu retten, noch große Mengen an klimarelevanten Gasen zurückgehalten werden. Damit haben wir die Überleitung zum nächsten Verkehrsministerversagen. Lt. Umweltbundesamt sinken bei einem Tempolimit von 120 km/h die CO2-Emissionen der Pkw‘s auf deutschen Autobahnen um ca. 9 %. Dies entspricht einer Menge von jährlich rund 3 Millionen Tonnen CO2. Mit seiner sturen, unbelehrbaren Politik sorgt er nicht nur für weiteres, unnötiges Sterben und Leiden auf den Autobahnen. Er verhindert auch die Chance mit leicht umzusetzenden Maßnahmen, positive Signale in Richtung Klimaschutz zu geben. Außerdem überlässt er Millionen von Stadtbewohnern ihrem Schicksal. Zu diesen Millionen Stadtbewohnern gehören insbesondere Kinder, Alte und Kranke und viele Menschen mit Atemwegserkrankungen. Auch wenn bei einer Überschreitung des Grenzwerts von 40 Mikrogramm NO2 pro Kubikmeter Luft niemand gleich und auf der Stelle tot umfällt – genauso wenig wie ein Raucher nach dem Genuss einer Zigarette auf der Stelle stirbt - so ist Rauchen genau so schädlich wie das Einatmen stickoxid-belasteter Luft. Die häufigen Grenzwertüberschreitungen in vielen Ballungsräumen, gegen die Gerichte immer konsequenter vorgehen, müssen unbedingt beendet werden.

Auch wenn nun kürzlich eine Hundertschaft von Lungenfachärzten für Scheuers Politik in die Bresche gesprungen ist, die Luftqualität in den Städten für unbedenklich erklärt und Entwarnung für die Schädlichkeit von Stickoxiden jenseits der 40 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft* gegeben hat, sind diese Grenzwerte trotzdem ausgesprochen sinnvoll, richtig und notwendig. Sie beruhen auf den Erkenntnissen nicht nur der Weltgesundheitsorganisation (WHO), sondern sie gehen zurück auf die Expertisen Tausender Fachleute und zahlreicher Umweltorganisationen der ganzen Welt. Und die wissen ausgesprochen gut, worum es geht. Ein Lungenfacharzt hingegen ist in keiner Weise kompetent für diese Fragestellung, bei der es in erster Linie um die Abschätzung der Folgen der Nicht-Einhaltung von Grenzwerten von Luftschadstoffen geht.

Was wir brauchen ist eine neue Mobilitätspolitik, die sich an den Gesundheitsbedürfnissen aller Stadtbewohner orientiert, die den Klimawandel im Auge behält und die dem unnötigen Sterben auf den Autobahnen rasch ein Ende setzt. Die Konzerne müssen gezwungen werden, die durch europäische Gesetze festgelegten Grenzwerte beim Verkehr (beschlossen 1999, seit 2008 in Kraft!!) einzuhalten und die Dieselflotten schleunigst so umzurüsten, damit die Betrügereien durch wirksame Hardware-Nachrüstungen ein Ende haben. Die Kosten dafür tragen die Betrüger und Gesetzesbrecher bei VW, Mercedes, Audi und BMW. Dazu muss eine Ministerin oder ein Minister die Arbeit aufnehmen, die oder der die komplexe Gesamtproblematik erfassen und die Probleme rasch lösen kann. Scheuer darf sich demnach als entlassen betrachten.

Um bei der hochgradig aufgeladenen Verkehrspolitik einen Durchbruch zu erreichen, müssen sich allerdings auch die Grünen endlich wieder konsequent einmischen. Nach ihren Vorschlägen eines von oben verordneten vegetarischen Zwangstages, einer schnellen Spritpreiserhöhung auf 5 Euro etc. (was keine Gegenliebe ausgelöst hat), haben sich die Grünen lange nicht mehr getraut, bei einer so heiklen Frage wie dem Tempolimit Farbe zu bekennen. Bei derartigen Themen - Tempolimit auf Autobahnen, Fahrverboten in Städten für Diesel etc. - ist schnell Schluss mit lustig. Da kann es, wenn man ungeschickt agiert, mächtig Gegenwind geben. Auch wenn sich in den aktuellsten Umfragen eine knappe Mehrheit für ein Tempolimit abgezeichnet: Die Autokonzerne und unbelehrbare Autofahrer werden heftig zum Gegenangriff blasen. Aber zu einem Aufbruch zu neuen Ufern in Sachen zukunftsorientierter Mobilitätspolitik gibt es keine Alternative: Sie ist nötig und möglich.

Aber sie muss überall stattfinden. Natürlich und vor allem in den Städten. Und auch wenn es Kassels Oberbürgermeister Geselle nicht gerne hört: Dazu gehört Mut und Phantasie und – als ein Schritt zu Beginn – die konsequente Förderung des Radverkehrs, wo Kassel noch ganz besonders viel nachzuholen hat. Die von weit mehr als 21.000 BürgerInnen unterschriebene Petition in Zusammenhang mit dem Radentscheid für eine neue, umweltorientierte und sicherere Fahrradpolitik muss jetzt beginnen, nicht irgendwann! Deshalb ist die Ablehnung dieses Entscheids bestimmt nicht der richtige Weg.

*Die EU hat nicht nur den besagten Grenzwert von 40 Mikrogram pro Kubikmeter festgelegt, sondern außerdem, dass höchstens 18 Mal pro Jahr an einer Messstation ein Stundenmittelwert von 200 Mikrogramm pro Kubikmeter überschritten werden darf. Genau an dieser Stelle setzen die Klagen der Deutschen Umwelthilfe und die inzwischen in vielen Städten ergangenen Urteile an. Diese Werte gehen zurück – wie viele andere Grenzwerte auch – auf die begründeten Empfehlungen der WHO. Der maximale Stundenmittelwert basiert auf der gesicherten Erkenntnis, dass bestimmter Personengruppen (Kinder, Asthmatiker etc.) bei noch höheren Werten gesundheitliche Probleme bekommen…


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Kommentare

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Wolfgang am :

Der einzige Kritikpunkt an diesem Artikel ist, dass er in der KasselZeitung leider keine große Reichweite erzielt.

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