Selbstversuch mit Kunstobjekt
Irena Haiduks Schuhe und ich - 1. Folge
Eine Nacht habe ich darüber geschlafen. Oben in der neuen neuen Galerie in der alten Hauptpost lässt Irena Haiduk Schuhe verkaufen. Das sind Schuhe, die von der Borovo-Schuhfabrik in Vukovar produziert werden. Das kroatische Vukovar liegt direkt an der Grenze zu Serbien, an der Donau.
Eine Nacht habe ich darüber geschlafen. Oben in der neuen neuen Galerie in der alten Hauptpost lässt Irena Haiduk Schuhe verkaufen. Das sind Schuhe, die von der Borovo-Schuhfabrik in Vukovar produziert werden. Das kroatische Vukovar liegt direkt an der Grenze zu Serbien, an der Donau.
Der Name der Stadt ist mir vom Jugoslawienkrieg in Erinnerung, verbunden mit Schrecklichem und mit dem Haager Tribunal. Und die Schuhfabrik erinnert mich an den Schuhfabrikanten Bat'a und seine Kunstseidenfabrik im slowakischen Svit, die es dort nicht mehr gibt: Bat'a. Wie verrückt ist das. In Svit stand ich vor einem Monat am Denkmal von Tomáš Baťa. Meine Freundin, die dort geboren ist, erzählte, dass er bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen sei, weil er unbedingt starten wollte, obwohl es nebelig war, und dass er die Frauen zu sehr mochte. Und nun lese ich, dass die Schuhfabrik Borovo von einem Bat'a gegründet worden ist. Jan Antonin Bat'a, ein Halbbruder, hat die Firma nach Tomáš Baťas Tod weitergeführt. Er wurde als „Mussolini des Schuhs“ bezeichnet, oder man sprach vom „Stiefel der Diktatur“. Das Unternehmen sah das etwas anders, sein Werbeslogan lautete: „Ne bojte se ni kiše ni blata, ako nosite kaljače Bata.“ (in etwa: Habt keine Angst vor Regen oder Schlamm, solange ihr die Bata-Stiefel tragt.) Dieser Jan Antonin Bat'a hat genau so eine Wohnsiedlung für seine Arbeiter errichtet, wie Tomáš Baťa im slowakischen Svit und im mährischen Zlín. Le Corbousier hat sie entworfen, meine Freundin wohnte als Kind in einem dieser Häuser, die ohne Zäune waren, so dass die Kinder sich frei bewegen konnten. Bei Wikipedia steht: "BOROVO war die größte Schuhfabrik im ehemaligen Jugoslawien und hatte 1990 21.000 Beschäftigte. Der Vorort Borovo Naselje gehört zu den am meisten zerstörten Gegenden in Vukovar, und von dem einstigen Großbetrieb sind nur noch einige Hallen übrig, welche derzeit noch knapp 3.000 Personen einen Arbeitsplatz bieten." Und diese Firma hat von 1960-1969 einen Schuh mit orthopädischer Unterstützung entwickelt, der "legendär bequem" sein soll (Katalog). Er wurde an Arbeiterinnen getestet und sei ideal für Frauen, die neun Stunden stehen müssen. Frauen im öffentlichen Dienst war es auferlegt, sie zu tragen. Diese Schuhe, Borosana, hat Irena Haiduk wieder produzieren lassen, für die Mitarbeiterinnen der Ausstellung und für die, die sie kaufen wollen. Ist das jetzt ein Geschäft mit Schuhen während einer Kunstausstellung? Im Schauraum, der so aussieht wie eine zum Laufsteg ummodellierte hochedle, blankpolierte Ostblockparteizentrale, stehe ich vor den Schuhkartons und probiere Größe 38. Die Zehen gucken vorne raus, dann doch Größe 39. Gestern hatten zwei Frauen die Schuhe angezogen. Eine tänzelte durch den Raum und sang Lobeshymnen auf die Bequemlichkeit. Sie sei Kunstlehrerin und da könne sie die Schuhe ja gleich anbehalten, denn das hier sei ihre Arbeit. Ich stand scheu daneben und wusste nicht so recht. Wenn ich arbeite, stehe ich kaum, ich sitze eigentlich dauernd. Über Nacht ist es mir auf einmal dringlich geworden: Genau diese Schuhe brauche ich. Ich gehe am nächsten Tag wieder hin und will sie erstehen. Zuerst aber muss ich mein Einkommen selbst einschätzen. Verdiene ich wenig oder mittel oder viel? Alle um mich herum sagen: "Mittel". Ich sage, was ich verdiene, das scheint mir einfacher. Die schöne Frau am Verkaufstresen, im schlichten Schwarzen gekleidet und mit den Borosana-Schuhen an den Füßen, sagt. "Mittel". Ich muss unterschreiben, dass ich die Schuhe nur zur Arbeit trage. Contract B-O2. Die Lettern des Vertrages sind aus Gold. Ich zücke meinen Füller und unterschreibe. Dann bezahle ich 30€ und bekomme eine blaue Schachtel überreicht, begleitet von den Worten: "Willkommmen in der Armee (wirklich???? Oder war das Club???) der schönen Frauen". Ich murmele etwas wie:"Da muss ich mir noch Mühe geben". Sie lächelt und meint: "Nicht so sehr". Ich klemme die Schachtel unter den Arm und möchte eigentlich noch in den pechschwarzen Raum, um ein Interview zu hören. Aber die chinesischen Besucher sind beherzter und ich werde abgedrängt. Macht nichts, ich kann immer mal hingehen und die nur ein einziges Mal. Kaum habe ich die Schuhe erworben, schon geht es los: Zuallererst stellt sich mir die Frage, was ist meine Arbeit? In der Klinik (Broterwerb), das Zeitungschreiben (kein Broterwerb), einmal im Monat Radiosendung (kein Broterwerb), das Schreiben (überhaupt kein Broterwerb), die Genossenschaft (überhaupt gar gar kein Broterwerb). Eigentlich wollte ich mir die Schuhe kaufen, damit ich besser schreiben kann. Wir werden sehen.
Kommentare
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Marlis Cavallaro am :