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Ein Weiblein geht im Walde

Wenn Frau Salm früh morgens in den Wald geht, sieht und hört sie Folgendes:
Das Gespräch mit der Bettdecke dauert etwas zu lang. Der Vorsatz, ganz ganz früh in den Wald zu gehen, verwandelt sich in "früh in den Wald gehen". Auf dem Weg zum Wald kommen mir Schüler, Schülerinnen und Fahrradfahrende entgegen, Autos sind kaum unterwegs. Der Bus ist voll besetzt mit müden Gesichtern. Zwei Freundinnen mit den identischen, prallgefüllten Schultertaschen gehen nebeneinander her und kichern zusammen ins Smartphone. Im Diedichsborn besieht eine Frau ihre Gartenpflanzen. Ihr Fahrrad steht bereit, sie wird von der Nachbarin abgeholt; gemeinsam radeln sie die Straße hinunter. Gartenmöbel warten auf wärmere Tage. Es ist still. Ein Gartenbauer stellt die Schubkarre neben seinen Pick Up und versucht einen Stein von der Ladefläche runter zu hieven, aber die Schubkarre fällt mit dem Stein um. Jetzt ist es nicht mehr still. Der Wald ist fast schon dicht mit seinen neuen Blättern, selbst die Buchen treiben langsam aus. Die Füße in die Kneippbecken an der Prinzenquelle stecken und wie ein Storch, ein Bein raus, ein Bein rein, im eiskalten Wasser auf und ab gehen, das wärs jetzt. Aber die Becken sind leer. Nur ein neuer Abfluss ist anmontiert und eine neuer Abfalleimer scheint mir auch dazu gekommen zu sein. Kein Wasser im Trog, dafür ein Wässerchen nebenan im Bach. Schuhe aus, Strümpfe aus und rein. Eine Hundehalterin steht eine Armlänge entfernt am Weg und schaut mit ihrem vollen Hundekacktütchen in der Hand irgendwohin. Sie tut so, als gäbe es mich nicht. Aus dem Gebüsch höre ich zwei Frauen im energischen Tonfall nach ihren Hunden schreien. Ich flüchte. Wenn sie nicht schreien, dann sprechen sie laut. Ich flüchte noch weiter und begegne in der Nußallee zwei Frauen mit zwei Hunden, die sie gerade mit Leckerlies zum Gehorchen zwingen wollen: "Sitz, Sitz, neeeeiiiiin, bleib sitzen, neeeeiiiin, bleib sitzen, sitz." Die drängenden Ermahnungen wirken. Eine der beiden hat ihrem Hund bereits das Leckerli gegeben und schaut verlegen zur Seite, während die andere immer noch auf den braven Hund einspricht. Hin und wieder keucht ein Jogger an mir vorbei. In der Ochsenalle sitzen die Rabenkrähen in den noch kahlen Beuysbäumen oder spazieren auf dem Gehweg. Sie hüpfen ein ganz klein wenig zur Seite, wenn man sich ihnen nähert, und zur Not fliegen sie auch ein paar Flügelschläge weiter. Manche haben weiße Federn zwischem Rabenschwarz. Wenn Hunde kommen, und langsam kommen etliche, warten sie, bis die Vierbeiner in voller Fahrt auf sie zustürmen, und dann erheben sie sich und flattern um sie herum.Und das immer und immer wieder. Eine Frau und ein Mann gehen mit ihren Hunden am Pferdezaun entlang. Sie sind von den großen Vögeln umgeben, die ihnen vor- und nachfliegen. Die Frau legt auf jeden Zaunpfosten einen Brotwürfel. "Ah, das ist der Grund, warum die Krähen Ihnen folgen." Die Frau erzählt, dass eine Krähe sich auf ihre Hand setze, aber nur, wenn sie alleine sei: "Nur, wenn ich ganz alleine bin. Das sind so intelligente Tiere, ich habe von einer Biologin im Fernsehen gehört, dass Krähen so intelligent sind wie Menschenaffen." Auf der Ponyweide am Wasserfallsgraben blühen die Sumpfdotterblumen. Meine Mutter mochte das Gelb sehr und die glänzenden Blätter. Sie fehlt mir so.

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Marlis Cavallaro am :

Deine Impressionen gefallen mir sehr! Die Hundescharen samt Frauchenmengen, die Du beschreibst, untergraben allerdings meinen Traum davon, mich unbedingt gelegentlich in früher Morgenstunde auf jene als still phantasierten grünen Pfade zu begeben. Grün ja - still?
Diese Wege ging und fuhr ich viele Male. Als Kind und Teenie kam ich mit dem Fahrrad von Wilhelmshöhe herüber, an der Prinzenquelle vorbei, um eine mir liebe alte Dame in ihrem Häuschen in der Ochsenallee zu besuchen, die Witwe des Kasseler Gewerkschafters Karl Eckerlin. Der war in den dreißiger Jahren prägende außerfamiliäre Vaterfigur und freundlicher Lehrmeister in der Schriftsetzerausbildung meines Vaters gewesen und in den Fünfzigern gemeinsam mit ihm aktiv in der Kasseler Friedensbewegung. Auf dem Weg zur alten Dame freute ich mich immer auf den Kuchen, der mich erwartete...
Mama geworden, führten mich viele Spaziergänge über diese Wege - mit meinen kleinen Kindern und meiner Mutter, die acht Jahre lang im Haus Ecke Kunoldstraße./Wilhelmshöher Allee lebte.Wir kamen aus Frankfurt oft zu ihr zu Besuch. Die Kneipp-Anlage unterhalb der Prinzenquelle wurde später angelegt. Es gibt noch ein Foto davon, wie mein kleiner Sohn - mit Wanderrucksäckchen auf dem Rücken - seine noch kleinere einjährige Schwester über den Bach schleppt, den die Quelle speist. Der Bachabschnitt mit Geländer sieht noch aus wie damals, die Schwester nicht.
Seit ich wieder so viel in Kassel bin, fahre oder gehe ich diese geliebten Wege erneut. Der Vorsatz, Wald und Prinzenquellen-Gegend öfters gaaaanz früh zu genießen oder sogar für regelmäßige Gesundheitsdröhnung zur Kneippanlage hinüber zu radeln, blieb bisher Vorsatz. Als ich
das letzte Mal - tatsächlich zum Storchengang bereit - anradelte, fand ich die Becken ebenfalls trocken vor.
Es sind auch für mich Orte, an denen ich an meine Mutter denke - die schwärmte gleichfalls vom leuchtenden gelb der Butterblumen und des Löwenzahns.
Und vom Rosengarten.

MR am :

es freut mich, dass es Leute gibt (nicht wie mich), die eine Verbundenheit mit diesem Ort haben, die ich nicht habe. Was für ein Glück wird das sein können?

Marlis Cavallaro am :

Was für eine Antwort würde das sein können auf diese Frage - wo die Definition solchen "Glückes" nie im anderen auch das entsprechende nachvollziehende Empfinden hervorrufen könnte - höchstens einen Hauch von Ahnung von Anklang ....insofern bleiben wir stets die von Hesse so empfundenen im Nebel Wandernden...
Verbundenheit mit Orten, an denen Vieles herumgeistert, das Teil der Seelenbilder wurde (psychovulgo: "Introjekte" :-) ...), bedeutet nicht immer "Glück", eher eine ganze Palette an Empfindungen. Es gibt andere Orte in Kassel, an denen mich länger aufzuhalten allerhöchstens Konfrontationstherapie zur Traumabewältigung sein könnte - auch eine Art Verbundenheit.

MR am :

Hier träfe einmal der Begriff der "Psychogeographie" zu, von den Situationisten für ihre Stadtausschweifungen in den 1950ern usw. geprägt. Oder Seelenstadtlandschaft o.ä. Meine entsprechende Landschaft wurde mehrmals im Leben gekräckt - na das ist dann wohl mehr eine Verwundenheit... Danke für die "Palette" -

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