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Kasseler Dokfest: Bracia

Die Brüder Mieczyslaw und Alfons Kulakowski sind hochbetagt aus Kasachstan in ihre alte Heimat Polen umgezogen. Hochbetagt heißt alt, sehr alt. Sie richten sich in einem Haus ein, das zuerst im grauen Rohputz, später weiß angestrichen da steht. Alfons, der Landschaftsmaler, ist der Bewegliche von beiden, Mieczyslaw geht oft am Stock, braucht Alfons' Arm, fühlt sich alt und krank. Alfons hat Energie für zwei und noch mehr, Mieczyslaw geht hinterher, langsam zwar, aber hinterher.
Eigentlich die Grundvoraussetzung für ein großes Zerwürfnis, Abhängigkeit erträgt auf Dauer weder der Abhängige noch der, von dem er abhängt. Einzelne Töne in diese Richtung tauchen im Film auch auf, aber wie diese zwei Brüder im Grunde zusammen hängen, zeigt sich in Szenen am Rande. Wenn Alfons an der Aussenfasade des Hauses eine Malerei aufträgt und auf einer Klappleiter steht: Mieczyslaw sitzt auf einem Plastikstuhl dabei und schaut zu. Dann steht er auf, nimmt den Stuhl und stellt ihn mühsam an die Wand. Sein Bruder fragt ihn von oben herab:" Was machst Du mit dem Stuhl. Was machst Du?" (zumindest in meiner Erinnerung) und er antwortet: "Ich helfe Dir. " Er stellt sich an die Leiter und hält sie. Es gibt kein besseres Bild dafür, wie er seinem Bruder Beistand leistet. Alfons kann seine Umgebung wahrnehmen, mit den Augen und mit den Ohren. Er schaut auf den See, den Himmel, die Bäume, das Rapsfeld. Und dieses Sehen, das eine heftige Auseinandersetzung und gleichzeitig Sinnesfreude ist, ist ihm eigen. Damit geht er bereits sein ganzes Leben durch die Welt. In seinem Gesicht sieht man Neugierde und den überscharfen Blick. Und er trägt das, was er sieht, auf die Leinwand auf. Die Brüder gehen zusammen raus, fahren zusammen in die Gegend - am Steuer des Wohnmobils: Alfons-, hocken oder stehen vor und in der Landschaft. Bei Mieczyslaw kann man es nicht so gut erkennen, wie er bisher durchs Leben gekommen ist. Von ihm stammen (wenn ich es richtig verstanden habe), die Filmaufnahmen aus früherer Zeit, mit Familie, Frauen, Kindern, Freunden. Und einmal sieht man darauf, wie die zwei Brüder als jüngere Männer sich gegenseitig beim Abschied hochheben. So also sind sie, die Brüder. Wie Mieczyslaw sich anstrengt, zeigt sich, wenn er mit einer großen Pinzette seinen Socken anzieht. Und was den Beiden noch geschieht, ist mehr, als selbst junge Menschen ertragen können. Von einer Ausstellung von Alfons Werken in Brüssel zurück, steht dieser vor einem völlig ausgebrannten Haus. Das müsste das Ende sein. Und wo ist Mieczyslaw? Nur Alfons sieht man schweigend und blickend durch die Ruine gehen. Das glänzende, schwarze Holz sieht er sich an, Reste seiner Bilder sammelt er zusammen, die allesamt verbrannt sind, sein ganzes Werk. Erst viel später taucht Mieczyslaw auf. Er versucht einen Holzklotz aufzuheben, was ihm gelingt und ihn fort zu bewegen, was ihm auch gelingt. Sie finden wieder ein Domizil, eine ehemalige Fabrik (?), leer, auch dieser Ausbau eine Jahrhundertarbeit. Mieczyslaw wird hinfälliger, Alfons hilft ihm wortlos beim Anziehen. Dann kommt Mieczyslaw ins Krankenhaus (anderswo heißt es ins Altenheim). Er weiß wohl noch, wie alt er ist, aber nicht welches Jahr und Tag er und die anderen haben. Er liegt im Bett, sein Bruder sitzt neben ihm und sie unterhalten sich über die frühere Zeit. Nun scheint es ans Ende zu kommen, kommt es aber nicht.
Was diesem Film von Wojciech und Małgorzata Staroń aus Polen in außergewöhnlicher Weise gelingt, ist, dass die Kamera die Art, wie Alfons die Dinge sieht, zeigen kann. Die Landschaft, den Himmel, die Alleebäume, Farben, Formen, Striche. Beim Zuschauen kann man lernen, dass diese eigene Sichtweise eine eigene Art der Bewegung und der Gestaltung des täglichen Lebens mit sich bringt. Und wie lebenserhaltend und erneuernd das sein kann, auch wenn man alt ist, sehr alt. So könnte es immer weiter gehen, wenn wir nicht wüssten, dass es ein Ende hat, in naher Ferne. Ein langsamer Film, der das Sehen schult und sich lange immer wieder in einem selbst zurück melden wird. Er macht glücklich und traurig zugleich.

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MR am :

Also eine Variation über die Zweisamkeit. Für die gemalte Beschreibung eines Großformats im Kleinformat dankeschön.

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