Skip to content

Neulich unterwegs im ICE

Von fremden Männern und Büchern
Der ältere Mann mit Gitarre und zwei Hartschalenkoffern stand bereits in Friedrichshafen am Bahnhof. In Ulm steigt er in den Speisewagen des ICE nach Berlin ein und wählt den kleinen Tisch. Ein ergrautes Ehepaar sitzt unweit von ihm am großen Tisch. Sie trinkt Bier, er Kaffee. "Oh," ruft die Zugbegleiterin gutgelaunt den Beiden zu, "das fängt ja schon gut an hier. Da setz ich mich doch gleich dazu." Das Ehepaar gibt zu verstehen, dass das Bier akoholfrei sei. Der Gitarrenbesitzer mit dem Gesicht eines Schlagersängers lacht: "Ohne Alkohol, das lohnt ja nicht", und ordert Salat und Wein. Dann ißt er, trinkt er und liest dabei in einem Buch. Während der Ehemann auf die Toilette verschwindet, huscht die Ehefrau rasch zum Essenden 'rüber und beteuert ihm, dass das ganz großartig gewesen sei, was er gemacht habe. Er freut sich und lacht. Der Ehemann weniger, er kommt vorzeitig zurück und sitzt fortan mit Sauerbitterrmiene am Tisch. Nach Salat und Wein, bestellt der mit dem Gesicht eines Schlagersängers Wasser und beginnt zu telefonieren: "...also erstens wollen wir sie wieder haben. Zweitens, ich bring Dir morgen das Buch mit, das Buch ist sensationell. Der ist mir sowieso ans Herz gewachsen. Ich bring Dir morgen das Ding mit. Tschüüs." Die Frau am langen Tisch neben ihm schreibt unentwegt in ein rotes Buch. In Stuttgart setzt sich ein Mittdreißiger an ihren Tisch, nicht ohne gefragt zu haben, ob er sich zu ihr setzen dürfe. Er bestellt Linsensuppe, ihr wird gleich darauf Chili Con Carne serviert. Der Kellner, der auch ein Tellerchen mit drei Scheiben Vollkornbrot hinstellt, hat einen ganz runden Rücken. Ständig verbeugt sich der große Mann; wenn er Bestellungen aufnimmt verbeugt er sich, wenn er die Speisen und Getränke bringt, verbeugt er sich, wenn er das Geld entgegennimmt oder die Tische mit Hilfe der Speisekarte von Krümeln befreit. Dann verbeugt er sich vor dem Tisch. Die Frau löffelt im Eintopf, ihr Gegenüber hält etwas unter Tischhöhe und liest darin. Als ihm sein Linseneintopf gebracht wird, wünscht sie ihm einen guten Appetit. "Oh, wie unaufmerksam von mir, Ihnen auch einen guten Appetit." Dann löffeln sie beide, schweigend. Kurz vor Mannheim spricht er die Frau an: "Ist das Ihr Reisebuch? Da passt ja viel rein." Sie nickt freundlich und fragt ihn im Gegenzug, was er denn lese. "Das Erbe von Björndal." Er, schon im Aufstehen, streckt ihr ein gebundenes Buch hin, Trygve Emanuel Gulbranssen, mit deutlichen Gebrauchsspuren. "Das habe ich gefunden, das lag im Zug. Und ich finde es sehr gut. Das ist eine Aktion, Bücher verschenken, man steckt sie in eine Tüte und lässt das Buch liegen." Auf ihre Bitte hin kramt er die Tüte aus der Tasche. www. bookcrossing.com steht drauf, eine bedruckte Pastiktüte und das Buch ist hinten gekennzeichnet. "Tolle Idee", meint die Frau. Der Mann mit dem Schlagersängergesicht knallt sein Buch auf den Tisch der Beiden. "Das ist auch ein tolles Buch, das sollten Sie auch unbedingt lesen", meint er. Frank Goosen: Sommerfest. Die Frau studiert den Klappentext. "Darf ich es auch mal haben?", bittet der Mann leise, eigentlich schon auf dem Weg zum Ausstieg. Nun liest er den Klappentext. "Zwei Fremde haben mir Bücher angeboten, schreiben sie das in ihr Buch", sagt er jetzt und legt das Buch auf den Tisch zurück. Der Zug fährt in Mannheim ein. Gerade als sich der Goosenbegeisterte das Buch vom Tisch nehmen will, sieht er das Bahnhofsschild. "Mannheim, ich muss aussteigen, zahlen, zahlen", ruft er dem Ober zu. "Was, so plötzlich?" , gibt der zur Antwort. Der Mann rafft in Windeseile alles zusammen was auf dem Tisch liegt und dabei fällt ihm die Lesebrille unter den Sitz. Die Frau steht auf, bückt sich und meint:" Ich habe den Eindruck, Sie brauchen Hilfe." Sie angelt nach der Brille und reicht sie ihm. Er hat währenddessen gezahlt, eilt wortlos zu Gitarre und den zwei Hartschalenkoffern und steht beim Anrollen des Zuges auf dem Bahnsteig.

Trackbacks

Keine Trackbacks

Kommentare

Ansicht der Kommentare: Linear | Verschachtelt

Noch keine Kommentare

Kommentar schreiben

Umschließende Sterne heben ein Wort hervor (*wort*), per _wort_ kann ein Wort unterstrichen werden.
Die angegebene E-Mail-Adresse wird nicht dargestellt, sondern nur für eventuelle Benachrichtigungen verwendet.
Um einen Kommentar hinterlassen zu können, erhalten Sie nach dem Kommentieren eine E-Mail mit Aktivierungslink an ihre angegebene Adresse.

Um maschinelle und automatische Übertragung von Spamkommentaren zu verhindern, bitte die Zeichenfolge im dargestellten Bild in der Eingabemaske eintragen. Nur wenn die Zeichenfolge richtig eingegeben wurde, kann der Kommentar angenommen werden. Bitte beachten Sie, dass Ihr Browser Cookies unterstützen muss, um dieses Verfahren anzuwenden.
CAPTCHA

BBCode-Formatierung erlaubt
Formular-Optionen