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"Welches Land ist Schalke?"


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Pünktlich zehnvorzehn stehen wir am Auestadion, um auf einen Bus zu warten. Unser kleines, sympathisches, wahlverwandtes Mehrgenerationenkollektiv von acht und siebzehn über Mitte dreißig, Mitte vierzig und Mitte siebzig ist willens, ein soziales Biotop jenseits aller bisher bekannten Dimensionen zu erkunden: "Im Fan-Bus auf Schalke", so lautet die heutige Mission.
Zur atmosphärischen Untermalung sei auf den Podcast verwiesen.
zehnuhrdrei
Die ersten in Königsblau gewandeten reisen an, kurz darauf kommt der Bus. Erste Gespräche mit den Vertretern aus einer anderen Welt kommen in Gang.
Natürlich fragen die Unbedarften zuerst, warum man bitteschön um zehn los muss, wenn der Anpfiff um fünfzehnuhrdreißig ist und man sich mit auch nicht ganz perfekten Geografiekenntnissen in etwa vorstellen kann, dass es bis Gelsenkirchen im Bus etwa drei Stunden dauern mag. "Wir aus den Fanclubs müssen schon zwei Stunden vor Spielbeginn da sein", werden wir aufgeklärt. Die Fahnen und andere Devotionalien wollen noch ordnungsgemäß drapiert werden und dem dreigeschossigen Fanshop gehört auch noch ein Besuch abgestattet. Gibt ja immer mal was Neues.
"Auch die Pausen während der Fahrt sind etwas ausgedehnter", sagt der im Fan-Outfit am Lenkrad sitzende Busfahrer. Nach Betreten des Vehikels und einem ersten Blick ins Innerste des Fanclubuniversums wird den - zumindest aus diesem Gesellschaftssegment bislang Exkludierten - schlagartig klar, warum: Ganze Sitzbänke sind freigehalten, um Platz zu schaffen - für die schon ab spätestens sofort nach der Abfahrt oral zu applizierenden Gerstensaftkaltschalen des aktuellen Hauptsponsors und Namensgebers der Bierbrauer-Arena im ehemaligen industriellen Herzen der Republik. Und damit niemand Hunger leiden muss, sind die oberen Ablagen prall mit nordhessischen Wurstspezialitäten und Trockenbrot gefüllt, die während der Fahrt käuflich beim Organisationschef zu erwerben sind. Was noch nötig sein wird. "Fleisch ist ihr Gemüse", könnte man über die damit verbundene Grundlagenschaffung für ein anständiges, deutsches Bundesligaspiel denken.

zehnuhrneun

Abfahrt noch innerhalb des akademischen Viertels. Hier haben die Fans uns Pseudointellektuellen definitiv einiges voraus, es klappt alles wie am Schnürchen. Man kennt sich und weiß, wer und vor allem was alles an Bord sein muss, damit es losgehen kann. Rein optisch gesehen sind wir natürlich sofort als Unbedarfte auszumachen, so dass der Organisationschef kein Mühe hat, uns zu identifizieren, um uns die Karten für das später zu erwartende Spektaktel zu übermitteln. Wir stellen fest, dass unser kleines, sympathisches Mehrgenerationenkollektiv getrennt voneinander sitzen wird. Die Freunde sitzen demnach auf der nach einem russischen Energiekonzern vermutlich unter Schirmherrschaft des ehemaligen deutschen Autokanzlers eingefädelten Sponsorendeals benannten Tribüne, für uns andere reicht es nur für die so genannte, werbeeffekttechnich deutlich weniger aussagekräftige "Erdgas-Tribüne" im Block 67.

zehnuhrelf
Wir befahren den Autobahnzubringer. Es geht sportlich zu: die drei Kollegen zwei Reihen vor uns wollen bis Zierenberg fachgerecht die erste Kiste Sponsorengebräu entleert haben. Der Ton untereinander: hart aber herzlich und auch die Fremden werden genauso in ihre Fangemeinde auf Zeit aufgenommen. Gleichzeitig setzt ab hier die psychologisch offenbar äußerst wichtige Dauerbeschallung mit einer extra für die Fans eingespielten Compactdisc, wie uns ein Sprecher zu Anfang selbiger erläutert, an, die bis Gelsenkirchen dann nicht mehr aufhören soll und mit deren sach- und fachkundiger Unterstützung natürlich auch die Rückfahrt noch zu bestreiten sein wird. "Keine Experimente", imaginiert der Unbedarfte einen Adenauerwahlspruch aus den Goldenfifties.
"Wir sind die Fans von Schalke, wir sind das Ruhrgebiet", schallt es ab nun dauerhaft auf uns herab. Immer unter strikter Verwendung einer bereits bekannten Melodie, die entsprechend umgetextet wird. Angefangen mit der Nationalhymne, die Verlierer wie wir im O-Ton nicht mal ordentlich mitsingen könnten.
"Schalke wir lieben dich und halten dir die Treue", so eine andere Weise. Definitiv decken die Fanlieder alle Bereiche von den konkreten Lebenszusammenhängen über schier nimmer endende Solidarität und imperiale Ausdehnung bis zum transzendental aufgeladenen Singsang großzügig ab. "Wir halten fest zusammen die königsblaue Fahne", "Schalke heißt die Königin, die uns alle süchtig macht", "Blauweiß das ist die Königin mit Schrammen im Gesicht", "Wir lieben dich seit 1904", "Wir spielen ganz Europa nieder". Wer Schalke hat, ist rundum versorgt.

elfuhreins
Erste Pause auf einem Flecken Erde bei Paderborn. Es steigen noch eine Hand voll Fans zu, die Businsassen rauchen draußen wie die Verrückten und düngen mit ihren Körperausscheidungen die umliegenden Gerstenfelder. Ein natürlicher Kreislauf also. Die Gerstensaftkaltschalenvorräte im Gepäckbereich werden einer ersten Überprüfung unterzogen. Alles okay.
"Einsteigen", ordnet der Organisationschef an. Fans rein, Muke an und weiter.
Ginge es frei nach Robert Lemke, bekommen wir hier, mit jeweils mehr oder weniger starker individueller Frequenz, die ein oder andere typische Handbewegung des klassischen Fußballfans zu sehen, der sich den kompletten Samstag und - hinsichtlich der in der Packungsbeilage vermerkten Risiken und Nebenwirkungen - vermutlich auch Teile des Sonntages für seinen Club frei genommen hat. Einen Arzt oder Apotheker brauch er dafür nicht zwingend zu konsultieren, schließlich kommt das in rhythmischen Intervallen mindestens alle vierzehn Tage vor. Wenn man nur zu seinen Heimspielen fährt...

elfuhrneunundfünfzig
Rastplatz Haarstrang-Nord: Es kommt zu ersten Vereinigungsszenarien: Der Bus vom Fanclub Diemel ist schon angekommen, exakt zwölfuhracht treffen die Waldecker ein. Man kennt sich. Kennen wir ja auch, nur leicht abgewandelt: Von der Brokdorfdemo mit gepflegtem Hubschraubereinsatz der Bundespolizei über die Startbahn West zu "Petting statt Pershing" im Bonner Hofgarten. Damals, Sie wissen schon. Aber man wird ja auch älter...
Die ersten drei Kisten Leergut werden umgeladen. Es bewährt sich hier die alte deutsche Weise "Die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen." Übersetzt auf die hiesigen Verhältnisse bedeutet das: volle Kisten ins Businnere, leere Kisten nach downunder.

zwölfuhrfünfundzwanzig
Gefühlsmäßig kurz vor Dortmund wollen wir mal wissen, wann wir denn wohl ankommen werden. "Kurz vor wo?", folgt die erstaunte Nachfrage auf dem Fuß. Wir werden aufgeklärt, dass diese Stadt überhaupt nicht existiert. "Für uns gibt es nur Lüdenscheid Nord und Lüdenscheid Süd", werden unsere Geografiekenntnisse aufgefrischt. Und die Bewohner beziehungsweise die Fans des dortigen Bundesligaclubs werden schlicht und ergreifend nach Getier benannt, das sich gern mal stechend festsaugt. Und die haben vorige Woche im legendären Ruhrpottderby einen sicher geglaubten Sieg noch in ein unentschieden umgebogen. Über diese Stadt ist also Schweigen zu bewahren, wird uns bedeutet.
Im Pausentevau soll später von einem Mittfünfziger noch eine Metapher gereicht werden, die es deutlicher nicht machen könnte: "Besser ne Schwester im Puff, als'n Bruder beim BVB."
Passend zur Vertiefung unserer geopolitischen und geostrategischen Kenntnisse fragt unser Achtjähriger: "Welches Land ist Schalke?"

dreizehnuhracht

Wir sind in Sichtweite der Bierbrauerarena. "Was, du warst noch nie hier?", zeigt man sich erstaunt. "Da wirst du Gänsehautgefühl kriegen, wenn du in die Arena kommst", prophezeit mir einer der Kenner.
"Viertelnachsechs am Bus", sagt der Organisationschef kurz und knapp die Rückreisemodalitäten an.
Unser kleines, sympathisches Mehrgenerationenkollektiv verständigt sich, in guten wie in schlechten Zeiten, zusammen zu bleiben. Keine ganz einfache Aufgabe bei diesen Menschenmassen. Besonderes Augenmerk gilt es auf unseren Mittsiebziger zu legen, der auch schon mal den falschen Bus nehmen könnte. So zumindest die Befürchtung. Sind ja reichlich da. Unser Jüngster hat in weiser Voraussicht die Mobilfunknummer seines aktuellen Begleiters und seiner Mutter auf den Unterarm notiert bekommen. Man kann ja nie wissen...
Fast zwei Stunden gilt es noch bis zum Anpfiff rumzubringen.
Vor der Bierbrauerarena ein Meer in blauweiß. Beschallung siehe oben.
Wie sollte es anders sein...

dreizehnfünfundvierzig
Der Mittvierziger und der wahlverwandte Spätpubertäre applizieren oral nun auch die erste Gerstensaftkaltschale, die ordnungsgemäß im Plastebecher gereicht wird, während die anderen den Fanshop aufsuchen. Unser Achtjähriger will die milde Gabe von Mutti in Fandevotionalien umsetzen.
So ergibt sich die Möglichkeit, beim Bier mit dem Spätpubertären über so allerlei Lebenszusammenhänge zu parlieren, zu denen man in Alltag nicht kommt. "Auch eine Variante, mal was mitzukriegen", denke ich bei mir.
"Mit dem Zweiten sieht man besser", beherzigen wir die Botschaft des von unseren Gebühren alimentierten Öffentlich-Rechtlichen. "Wir müssen mal rein", sagt der Spätpubertäre.
Es geht also los. Nach Norden und dann immer, nein nicht gerade aus, sondern immer Richtung Erdgastribüne, Block 67. Wir kommen kurz vorm Anpfiff in die schon prall gefüllte Arena.
Es ist absolut beeindruckend.
Zusammen mit einundsechzigtausendfühnfhunderteinundvierzig Leuten sitze ich in der Arena. Die prognostizierte "Gänsehaut" wäre jetzt ein bisschen übertrieben, auch wenn's ansonsten schon in der einen oder anderen Körperregion jenseits von Gänsehaut ziemlich schrumpelig aussieht. Aber so was sollte man definitiv mal erlebt haben.

fünfzehnuhrdreißig

Anpfiff. Wir sehen ein mehr als mäßiges Spiel. Die Schalker sind nicht in der Lage in Überzahl die Frankfurter wirklich unter Druck zu setzen. Selbst die Fans sind kritisch. Ein Nationalspieler wird ausgepfiffen, als er ausgewechselt wird.
Spontaner Jubel brandet auf, als die Ergebnisse aus München kommen. Bremen führt fünfzunull. Ansonsten keine besonderen Vorkommnisse.


siebzehnuhrzwanzig
Wir sind erstaunt, wie reibungslos die vielen Menschen wieder aus ihrem "Wohnzimmer" kommen, um die Heimreise anzutreten. Das sitzplatztechnisch getrennte Mehrgenerationenkollektiv trifft sich an zuvor verabredeter Stelle. Jetzt müssen wir natürlich noch eine ordentliche deutsche Bratwurst mit Senf zu uns nehmen, bevor wir wieder aufbrechen.
Blick von der Arena ins Herz der ehemaligen Vorzeige-Industieregion


achtzehnuhrsiebzehn
Wir treten die Heimreise an.

neunzehnuhrzwölf
Boxenstopp am "Haarstrang Süd". Zum Procedere siehe oben. Die Compactdisc ist mindestens schon einmal durchgedudelt. Wir rechnen uns aus, dass wir das noch etwa vier Mal goutieren dürfen, bis wir zuhause sind. "Unsere" Fans sind etwas lauter geworden, der Ton wird härter, bleibt aber herzlich, auch wenn das sich für die Lauscher der Unbedarften nicht immer auf's Erste zwingend erschließt, weil es sich mitunter nach handfester Pöbelei und Beschimpfung anhört. Auch wir werden immer wieder in den Dialog eingebunden, die Jungs fragen interessiert nach, wie es uns gefallen hat und wann wir das nächste Mal dabei sind.
Nebenbei werden Bier und Kulinarisches aus heimischer Produktion verköstigt. Zu mehr als fairen Preisen. Nun auch von uns. Das verbindet.

zwanziguhrzwanzig
Boxenstopp nahe Paderborn. Procedere siehe oben.

einundzwanziguhreinundzwanzig
Ankunft am Auestadion. Unsere soziologischen Studien neigen sich dem Ende. "Kommt mal wieder mit", wird das Mehrgenerationenkollektiv nachdrücklich aufgefordert und zumindest unser Achtjähriger, der von "unseren" Fans ein Fanshirt geschenkt bekommt, nachdem ihm vorhin vor'm Stadion gleich zwei kostenlose Winkelemente offeriert wurden, will gleich den nächsten Termin klarmachen. Mit leuchtenden Augen...
















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