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Freiwillig in Kassel, meiner kleinen Stadt



(Download: sonntagmorgen.mp3) Auch wenn man sich als überzeugter autoloser Städter an die Allgegenwart der Verkehrsgeräusche gewöhnt hat, so ist deren Fehlen dennoch ein Ereignis.
Ein Sonntagmorgen in Wehlheiden, der dörflicher klingt, als das in dem Dorf bei Guxhagen, in dem ich mal wohnte, jemals vorstellbar war. Ein Dorf mit Durchgangsstraße, die morgens ab vier den Berufsverkehr und nachts bis um vier den Discoverkehr aufnehmen muße, im Sommer die leistungsstarken Zugmaschinen, die eilig und lautstark vom und zum Feld fuhren.

Was wollte ich sagen? Ich schätze das Leben in der Stadt. Hier kann ich ohne Einschränkung ohne Auto leben (Eine Entscheidung, die schon vor vielen Jahren für mich jede sektiererische Komponente verloren hat, und inzwischen einfach nur noch Gewohnheit ist, und Bequemlichkeit, ja, denn mich um eine weitere Sache nicht kümmern zu müssen, ist bequem - deswegen lehnte ich vor einem viertel Jahr auch den angebotenen Dienstwagen ab. Bequemlichkeit und die Freude, dem Berufsverkehr entgehen zu können - wie unfrei, vor der Fuldabrücke festzustecken, oder in einem Bus voller müder Gestalten, und wie genußbetont, meinen Weg fernab aller Straßen, durch den Park, zu meiner Fabrik nehmen zu können).

Ich schätze meinen Wohnort hier in Wehlheiden, zwischen der Kohlenstraße und der Wilhelmshöher Allee, was grauenhaft laut und verkehrsbelastet klingt - tatsächlich aber wegen der umliegenden Häuser die leiseste Wohnsituation ist, in der ich mich je befand. Nur vor dem geöffneten Wohnzimmerfenster führt eine Art Fahrradautobahn in Richtung Philosophenweg, und an warmen Tagen höre ich von der Straße die Gesprächsfetzen der Radler, "... zum Kotzen, weißte, den ganzen Tag geht das tausend ...", "... aber das war echt besser als ...", "... dann bin ich hoch- und runtergegurkt ...", "... ist dann wieder der Zebrastreifen, wo du absteigen mußt, Thorben! ..." Ein schönes Projekt, aus diesen unfreiwillig mitgehörten Schnipseln - ich habe schon einige festgehalten, was leicht ist, da besonders die Beziehungsgespräche immer sehr lautstark geführt werden - eine Collage zu machen.

Was wollte ich sagen? Daß ich dem spröden Charme Kassels nach über 20 Jahren endgültig erlegen bin, einer Stadt, die mit ihren dauertrüben Winterdepressionen, mit ihren Verwachsungen und schlecht verheilten Brüchen leichter zu lieben ist als eine der bruchlosen, lediglich stumpfsinnigen Reichtum verströmenden Metropolen. Ein Studienkollege aus Biberach entschied sich damals gegen Stuttgart und für Kassel, weil er sich hier "als unordentlicher Mensch weniger fehl am Platze fühlte".

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Kommentare

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Martin Reuter am :

Oha, das soll eine "Tägliche Dosis" sein?

Helmut am :

Jeden Tag würde ich solche Beschaulichkeit gar nicht aushalten können ;)

Sabine Scheffer am :

Mein Dorf, Bettenhausen, klingt genauso. Dazu Bachplätschern, Kinderlachen und Hundegebell.....Nachmittags schreiende Penner, prügelnde Besoffene und äh - die Tochter, von der Nachbarin gegenüber die Schlagzeug übt. (In diesem Punkt habe ich gelogen)Aber der Grafiker von der anderen Straßenseite fährt manchmal Sonntags mit seinem Porsche herum...WWRROOOOMMM - Habe Sie sich ein H2 Zoom gekauft Herr Fligge - das 4-Spur Taschenstudio für 197,- ???

Helmut am :

Ich warte ja immer noch auf den "grölende Penner-Podcast" ;)

Nee, ich habe diese kleine Box von Roland, schön ist, daß die sich auch absolut merkbefreit bedienen läßt, wer den Cassettenrecorder von 1970 beherrscht, kommt auch damit klar. Wollte ich so, damit ich nicht auf der Straße die Aufnahme erst im dritten Untermenü starten kann, sondern wie hier einen großen roten Knopf habe.

Martin am :

Der enthusiasmos war im antiken Griechenland sehr viel höher bewertet als heutzutage. Schön, ihn einmal wieder hervortreten zu sehen/lesen...

klaus am :

Neues Spielzeug angeschafft?

Martin Reuter am :

Fahrrad oder Enthusiasmus für die Stadt?

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