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Meine Dauerkarte und ich

Im Austausch für vier Übernachtungen von zwei Regisseurinnen erhalten wir Dauerkarten für das 32. Kasseler Dokumentarfilm- und Videofest, was den eifrigen Besuch der Filmvorführungen nach sich zieht. Bei mir notgedrungen weniger, bei den anderen dafür mehr. Janosch beispielsweise fährt ständig mit dem Fahrrad zwischen Bali und Filmladen hin und her.

Wir gehen zu dritt in „Spurensicherung“. Meine kleine Umfrage „warum geht ihr in diese Filmreihe“ führt zu keinem Ergebnis, weil sie nur in meinem Kopf stattfindet. Aber ich weiß, warum ich dort hingehe: Ich sitze seit Wochen über der Nachlasskiste meines Vaters und überlege mir, wie ein Leben, das man nicht kennt, obwohl man es 19 Jahre mit gelebt hat, beschreibt und zugleich erfindet. Dann steht da noch der Nachlass meiner Mutter und meiner Tante. Ich könnte mich eigentlich nur noch in der Vergangenheit aufhalten, aber es gibt ja auch noch Gegenwart und das, was kommt.

Väter und Mütter kommen übrigens in den Filmen überhaupt nicht vor, dazu sind die Filmemacher (drei Frauen, vier Männer) fast alle zu jung. Dafür Erinnerungsorte : Lisa Zschocke sitzt auf ihrer Heimatbank im Grünen –Getreidefelder hinten und vorne- und spricht über das, was auf dieser Bank für sie passiert ist, um es im nächsten Kommentar gleich als Kitsch zu denunzieren und am Schluss gar nicht mehr genau zu wissen, was das nun ist: Erinnerung.
Florian Maubach zeichnet - von Originalgeräuschen begleitet- den Ferienort (vermutlich) seiner Kindheit (Groeten uit Hindeloopen) auf, köstlich und hübsch, mit aufgehender und untergehender Sonne. Der Zeichenstrich richtet sich nach den Geräuschen und geht nur immer stückweise weiter, bis das Dorf, die Dünen, das Meer und die Möwen gezeichnet sind. Toller Soundtrack, gute Idee.
Ganz anders Ulf Staeger. Der zeigt die Veränderungen in Berlin, an den Gebäuden und an den Menschen. Das war überraschend und spannend zu sehen. Seine laufenden Bilder dokumentieren teils im Zeitraffer, wie es war, ist und wird: Erst ein Einkaufstempel, dann Bruchbude, dann wieder Nobeleinkaufstempel, alles am selben Ort. Dazwischen die Passanten und Kaffeetrinker, die gegenwärtigen und immer mehr in Schwarzweiß die früheren Passanten und Kaffeetrinker. Irgendwann überlagern sich die Bilder und die bunten Zeitgenossen mischen unter die Schwarzweißen und umgekehrt. So ist es: Was vorher war, kann der Zeitgenosse nicht mehr wahrnehmen, ist aber trotzdem da. Nur von den alten Augen wird es noch gesehen und eben nun von uns Zuschauern. Der Soundtrack ist auch hier sehr ausgeklügelt. Was mich daran erinnert, dass ich die Geräusche meines Elternhauses noch aufnehmen möchte, bevor es abgerissen wird.

Jeoy Arand stellt hohe Ansprüche an die genealogischen Fähigkeiten der Zuschauer. Sie spult in einem Affenzahn die gesamte Familien- und damit die Kolonialgeschichte von La Réunion anhand ihrer Protagonistin Victoire ab. Die Nachfahrin afrikanischer, indischer und chinesischer Vorfahren kann das wunderbar erläutern und zeigen, was sich erst einmal völlig wahnsinnig anhört, aber für sie nicht ist. Hinterher ist man schlauer. Feine Idee. Es gibt ein link im Netz, da kann man sehen und hören, wie Joey Arand ihren Film vorstellt. Wer ihn öffnen kann, soll es versuchen: http://www.video-der-generationen.de/archiv.html?id=552&k=p&p=2015

Sita Scherer mit „Essen vom Boden der Geschichte“ zeigt, wie das Grünzeug von den brachliegenden Flächen des ehemaligen Waldauer Flugplatzes - der von den Fieseler Werke genutzt wurde- Besitz nimmt und auf der Brache Äpfel und Beeren, Hagebutten und Pilze wachsen. Alles zum essen. Alles auf nationalsozialistischem Untergrund hochgekommen. Ihr eigener Text dazu ist beeindruckend. Den würde ich gerne noch einmal sehen, nach dem fünften Film macht meine Wahrnehmung schon schlapp.
Deshalb kann ich mich auch nicht an den vierten Film so richtig erinnern, was gemein ist, Jan-Hendrik Gebbe mit Short Stories hat das vermutlich nicht verdient. Ich weiß noch, dass er Bilderarchive mit Bildern aus dem Internet angelegt und die dann verbunden hat.

Seltsamer Weise hat sich der letzte Film dafür ziemlich festgesaugt. „Der Wind, der Wind, das himmlische Kind“ von Nicolai-Tobias Sauer ist ein Assoziationsritt durch Kassel, der bei dem Grab von Charlotte Grimm beginnt und sich dabei in einer halben Stunde durch alles, was und wer am Erhalt der Kulturgüter in Kassel beteiligt ist (Restauratorinnen, Museumsdirektoren?) filmisch durchgräbt. Jetzt aber macht mein Gedächtnis schlapp. Jedenfalls sehr sehenswert, informativ und erstaunlich.
Ich hoffe die Filme demnächst zumindest auf youtube zu finden.

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Kommentare

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MR am :

4x2 = 8?

Gertrud Salm am :

Ist das der Auftakt zu einer Gewinn-Verlustrechnung?

MR am :

The winner takes it all, the looser's standing small...

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