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Ich muss mich doch nicht entscheiden, oder?

Roger M. Buergel und Ayse Gülec
documenta Forum und KulturNetz luden ein zum Gespräch mit Roger M. Buergel und Ayse Gülec
Ein Gespräch war das nicht, was in den Räumen des Landesmuseums gestern Abend (22. Januar 2006) vor reichlich vorhandenem Publikum stattfand, stattdessen wurden Fragen gestellt, die teils beantwortet wurden. In guter Tradition wird vor der Eröffnung der Ausstellung nicht allzu viel bekannt gegeben, was meist für Aufregung und Spekulationen sorgt. Doris Krininger (Kunsthistorikerin, Kassel) fasste einleitend den Informationsstand zusammen.

Was bisher bekannt geworden ist über die Documenta-Vorbereitung:
1. Drei Leitfragen wurden ausgegeben:
Ist die Moderne unsere Antike? Was ist das bloße Leben? Was tun?
2. In über achtzig Zeitungen weltweit werden diese Fragen diskutiert, aus diesen Diskussionen werden drei Hefte entstehen, die die den Diskussionsverlauf dokumentieren.
3. Ein Kasseler Beirat wurde gegründet, dem vierzig Personen angehören, die nicht zum Bereich Kunst zählen und die diese Fragen vor Ort, in Kassel diskutieren.
4. Vier Namen von teilnehmenden Künstlern wurden bisher genannt: der Spanier Ferran Adrià (Koch), der Pole Artur Zmijewski, der Brasilianer Ricardo Basbaum, die Engländerin Imogen Stidworthy.
5. Das Budget beträgt 19.000.000€, die Hälfte davon soll durch die Ausstellung erwirtschaftet werden.
6. Die Hauptsponsoren sind Saab und die Sparkassen Finanzgruppe
7. Die Standorte der Ausstellung werden sein: Neue Galerie, Fridericianum, Dokumenta-Halle, Kulturbahnhof (für Projekte), Bergpark Wilhemshöhe, Glaspavillon in der Aue.

Was an diesem Abend bekannt wurde:

von links nach rechts: Doris Krininger, Roger M. Buergel, Ayse Gülec, Dr.Ernst-Dieter Lantermann Fotos: Frank Thöner
1. Der Glaspavillon soll nicht das Fridericianum in den Schatten stellen, sondern eine Entzerrung der Ausstellungsflächen bringen. Leichter, lichter stellt sich Roger M. Bruegel die Ausstellung vor, die außerdem komplexe Bildungsprozesse in Bewegung setzen soll. Bei 650.000 geschätzten Ausstellungsbesuchern braucht das Raum. Die Fabrikräume haben sie sich angesehen, das sind für ihn keine Räume für Kunst.
2. Kriterien der Auswahl benennt Roger M. Bruegel nicht: „Ich wähle nicht aus, sie wählen mich aus.“ Dinge, die ihn „berühren und anrühren“. Auch wenn es um die große Ausstellung geht, versucht er sich frei von Formalisierungszwängen zu machen. Bisher haben er und Ruth Noack (Kuratorin) die Themen ihrer Ausstellungen selbst gewählt, das Geld selbst herbeigeschafft, den Rahmen für die Ausstellung selbst ausgewählt. Die Documenta sei ein anderes Format, da müsse neu gedacht, neu entwickelt werden. Er spricht davon, dass sie vor der Documenta bereits von Künstlern beeinflusst wurden und Verbindungen, Verpflichtungen mitgebracht hätten. Der Documenta-Prozess sei ein Bildungsroman. 2003 sei er sicherlich naiver gewesen, Formalisierungszwängen versuche er aus dem Weg zu gehen, sich nicht festzulegen und trotzdem einigermaßen charmant auf Fragen zu antworten.
3. Die künstlerische Leitung chattet nicht um die Welt, um sie auszuplündern, sondern sie hat ein Erkenntnisinteresse, dem sie nachgeht. Die Foren, die vor Ort in Verbindung mit den Diskussionen in den Zeitungen entstehen, bieten Raum für diejenigen, die sich auf der Basis der Documenta zusammen finden. Man muss nichts erfinden, sondern sich selbst zum Medium machen und zurückvermitteln.
4. Es gibt keine Strategie, wie mit den Besuchern, ob konsumistisch veranlagt oder bildungshungrig, umgegangen wird. Es wird keine Leistungsschau geben. Die Leute hier vor Ort haben genügend Zeit, sich auf die Documenta einzulassen, die Besucher weniger. Es wird trotzdem eine Wissensvermittlung geben. Und wenn nur erklärt wird, dass man das sowieso nicht verstehen kann. Die vermittelnden Personen werden lange ausgebildet in dem Sinne, dass sie sich selbst ein Bild von der Ausstellung machen. Die Ausbildung läuft bereits seit November, mit einer ganz anderen Methodik, nicht über ein autorisiertes Sprechen, das weiß, was das Kunstwerk bedeutet. 300 Gruppen werden geführt, zwei Stunden pro Gruppe sind vorgesehen. Ulrich Schötker, der für die Vermittlung der Ausstellung zuständig ist, begründete die langen Führungen damit, dass in einer Stunde wenig mitgeteilt werden kann und die Besucher selbst zu Wort kommen sollen.
5. Der Beirat in Kassel arbeitet seit über einem Jahr und versucht, mit konkreter Hilfe die Leitfragen in Aktivitäten umzusetzen. Durch den Beirat haben die Ausstellungsmacher viel über Kassel gelernt, beispielsweise, dass sich Russlanddeutsche am Wochenende gerne im Bergpark aufhalten, darum wird er auch in das Zentrum der Ausstellung gestellt, weil er gleichzeitig die Frage der Russlanddeutschen ins Zentrum stellt. Für diese Arbeit wurde ein neuer Begriff gefunden: translokal, was besagen soll, dass lokalspezifische Probleme und Mentalitäten hier und auch an anderen Orten vorzufinden sind.
6. Es wird Denkräume und Palmenhaine geben. Das führt zu einem Raumbedarf, den das Fridericianum nicht abdecken kann. Es gibt aber kein Modell für die Verbindung von Aktion und Kontemplation des Besuchers.
7. Der Pavillon wird nicht zu heiß.
8. Roger M Buergel und Ruth Noack gehen täglich im Bergpark spazieren.

Moderiert wurde die Veranstaltung von Doris Krininger und Dr. Ernst-Dieter Lantermann, der versucht war, kritische Fragen zu stellen. Es war trotzdem ein erstaunlich friedfertiges, gelassenes Gespräch, was man beim Thema Kunst so nicht gewohnt ist.

W.M.Buergel
Die schönsten Aussprüche der Veranstaltung von W.M.Buergel, in möglichst wortgetreuer Wiedergabe:
- Institutionen, die ihrem Bildungsauftrag nicht nachkommen, sollten Vergnügungssteuer zahlen. (zum Eventcharakter von Ausstellungen)
- Bei den meisten Kulturveranstaltungen wird man ja systematisch verblödet.
- Es fordert – nebenbei – absolute Hingabe, wenn man sich auf das Kunstwerk einlässt. Das kann ein paar Jahre dauern.
- „Man kann den Rasen betreten, nur ist man dann in der Ausstellung“. (auf die Kassler Klage, dass man den Rasen an der Orangerie drei Monate nicht betreten dürfe.)
- „Das kommt vor, das ist wie beim Klo.“ (auf die Frage, ob die Denkräume und Palmenhaine nicht permanent besetzt seien, bei Tausenden von Besuchern)
- Im Bergpark sind genügend Motive, die holen wir ins 21. Jahrhundert.
- Sich selbst mit den Sachen zu beschäftigen ist Arbeit. (diese Sentenz von R. Noack)
- „Ich muss mich doch nicht entscheiden, oder?“ (auf die Frage, ob er die Besucher erschrecken oder erheben möchte.)

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Kommentare

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Reinhold Weber am :

... ein sehr gelungener Bericht, dem nichts hinzuzufügen ist ... man/frau muss nicht dort gewesen sein, um mehr zu wissen, außer zu erleben, dass Roger M. Buergel eine überzeugende Vorstellung gab und jederzeit schlagfertig und charmant kritische Momente seiner 'Bildungsreise' umkurvte ...

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