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Die Ausbildung zum Profi-Bürger(&B-Journalismus)

Seit Jahren versuchen wir in diesem Medium, Öffentlichkeitsertüchtigungsmaßnahmen in Form von sog. Bürger-Journalismus (ähnlich in der "Freisprechanlage" des Freien Radios) durchzuführen. Letztes Jahr hat sich über Karlsruhe eine neue Karawane der Professionalisierung des Bürgertums ingesamt dazugesellt, Näheres hier. Die Ein- und Ausbilder für eine neue Profession ziehen am Samstag nach Berlin. Statt dorthin zu eilen, habe ich mir die Rezension der ersten gedruckten Erträge in dem von Bazon Brock und Peter Sloterdijk herausgegebenen Bändchen vorgenommen.
Insgesamt ist eine lustige Publikation anzusagen. Lustig schon mal, weil ich durch den Titel hinter mein eigenes Licht geführt wurde. Denn mir schien klar geworden zu sein, dass die Figur des „Bürgers“ zwar so gegen das europäische Mittelalter und renaissanceartig einmal in befestigten Städten gelebt hat. Mir schien ebenso klar, dass diese echten Körper dann durch die gleichnamige Kampfklasse gegen Adel und Klerus zur fiktiven Konstruktion von Verfassungen in Amerika und Frankreich gemacht wurde. Denn das „Volk als Souverän“ kann nur eine Fiktion sein, zumal wenn sich eine Stellvertreterschicht („Repräsentanten“) dazwischen schiebt, die Universalerklärungen für andere abgibt. Also konnte der „Profi-Bürger“ nur eine Parodie sein. So nach dem aktuellen Motto: Nun beteiligt euch doch endlich mal an eurer Souveränität, ihr faulen Säcke; wir machen so lange weiter wie bisher!
Aber weit gefehlt. Die sieben Aufsätze legen uns nahe, sich an die Realität der Fiktion heranzumachen. Nun hat Peter Sloterdijk die Fiktionsthese in der gewohnten Starkprosa formuliert. Er beobachtet zusammen mit uns das Wiederauftauchen der „leibhaftigen Bürger, die sich dem postdemokratischen Gebot der Bürgerausschaltung widersetzen.“ Dadurch wird die Fiktion des mündigen Aufgeklärten plastisch: „In der repräsentativen Demokratie werden Bürger … in erster Linie als Lieferanten von Legitimität für Regierungen gebraucht. Deswegen werden sie in weitmaschigen Abständen zur Ausübung ihres Wahlrechts eingeladen. In der Zwischenzeit kön¬nen sie sich vor allem durch Passivität nützlich machen. Ihre vor¬nehmste Aufgabe besteht darin, durch Schweigen Systemvertrauen auszudrücken.“ (S. 53; sinnparallel hat Robert Pfaller den guten Begriff „Interpassivität“ geprägt.) Hier nun setzt er sein Programm der Stärkung thymotischer Kräfte ein – als Wiederentdeckung von Zorn und Stolz. Bazon Brock versucht es mit der „Anleitung zur radikalen Selbstwürdigung in Bürgerschulen“. Dort erlernt man die Ergreifung von Freiheit. (Aus persönlichen Umgängen weiß man allerdings, dass die Selbstwürdigung bei ihm mit der Fremdwürdigung nicht immer Schritt hält. Sozusagen: „Erst die realistische Annahme, dass man mit dem Scheitern [der Fremdwürdigung, MR] ebenso zu rechnen hat wie mit dem Erfolg, macht den Profi.“)
Markus Gatzen betrachtet den Part des Mediziners, der vom Heilen zur Kooperation übergeht; Wolfgang Ullrich macht darauf aufmerksam, dass die heute immer noch beliebte These von der Konsumentenmanipulation (etwa Vance Packard und die „Geheimen Verführer“ von 1957 plus „Warenästhetik“ von Haug) sich ziemlich verschlissen hat. – Die beiden Religionsaufsätze sind abschließend hervorzuheben. Manfred Schlapp denkt in einem gänzlich unschlappen und erfreulichen Aufsatz über die „muslimische Welt“ nach. Da man immer von bösen Suren liest, ohne den Koran zu kennen, wird hier endlich einmal dem katholischen Allumfassungsanspruch – ich setze den christlichen Fundamentalimus und das westliche Kommunismus-Verfolgungs¬phantasma hinzu – der ebensolche Kriegsanspruch kollegial zur Seite gestellt: die Sure der Beute, im 39. Vers (S. 83). Schließlich: Evelin Goodman-Thau macht zwar das „Versprechen“, dem Profi-Bürger „zeitgemäße Hinweise aus den Quellen des Judentums“ zu geben; erstaunlicherweise ist dies aber der akademisch umständlichste aller Artikel. (Kein Wunder, geht es doch im Übertitel um einen „Monotheismus der Moderne“.) Man kürze also ab und lese „Die ‚zehn Worte’ einer guten Religion für Diplom-Gläubige“, S. 100-103, sofern man eine solche sucht.
Endlich Schluss: „Noch scheuen die Experten vor der harten Diagnose zurück, wonach die Politik der nützlichen Entpolitisierung des Volkes vor dem Scheitern steht.“ (Sloterdijk) Auch ich scheue als Nicht-Experte davor zurück. Denn es ist derzeit kein anderes, attraktives Modell geboten, deshalb geht das Scheitern erstmal so weiter. - Mindestens zwei Aufsätze, die hier noch dringend fehlen, wäre der eine vom Scheitern der Nahrung, also über den Profi-Ham-Bürger gewesen. Dazu passt die Meldung der Gewerkschaft NGG, man habe vor Kassels Burger King am 1.12. für anständige Arbeitsbedingungen demonstriert. Der zweite wäre der über die gesunkene Produkt-, Serviceleistungs- (Telefonschleifen!) und Verbrauchberatungs-Qualität. Damit der Bürger heute an Information und Beratung kommt, muss er sich in Fragen technisch-organisatorischem Know-How (z.B. Behörden) und Info-Guerilla ("Buchbinder-Wanninger-Effekt") echt professionalisieren. (Man wusste wohl, was man tat, als man den sog. Sachbearbeiter oder Sachkundigen eliminierte. Das ist volkswirtschaftlich schädliche Vernichtung von intelligenten Lebenshilfen aus Kostenmagersucht. Zusammen mit der Verbraucherzentrale Hessen bleiben wir da am Ball...)
Das Bändchen der beiden Bürger-Kings: Brock, Bazon; Sloterdijk, Peter (Hg.) (2011): Der Profi-Bürger. Handreichungen für die Ausbildung von Diplom-Bürgern, Diplom-Patienten, Diplom-Konsumenten, Diplom-Rezipienten und Diplom-Gläubigen. Paderborn: Fink (Schriftenreihe der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe, N.F., Bd. 8).

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